Pro und Kontra zum Ski-StreitfallOdermatt wettert gegen Hirschers Wildcard – zu Recht! Oder doch nicht?
Der einstige Dominator will zurück in den Weltcup und bekommt dafür eine Sonderbewilligung. Ist das legitim? Oder völlig daneben?
Dagegen: Hirscher erhält Planungssicherheit, die nicht einmal Marco Odermatt hat.
Die Heldinnen und Helden von früher werden eingeladen, wieder mitzufahren. Klingt wunderbar. Den roten Teppich ausrollen ist aber nicht angebracht.
Wenn er denn antritt, darf Marcel Hirscher am Sonntag im Riesenslalom von Sölden direkt nach den besten 30 starten, obwohl er fünf Jahre lang kein Rennen bestritten hat und in der Weltrangliste auf Platz 747 abgerutscht ist. Die Wildcard-Regel macht es möglich; Zurückgetretene, die entweder den Gesamt-, einen Disziplinenweltcup oder Gold an Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften gewonnen haben, profitieren beim Comeback davon – sofern sie mindestens zwei, aber maximal zehn Jahre inaktiv waren. Eine Sauerei sei das, sagen Konkurrenten, gerade aus dem Schweizer Lager. Sie haben recht.
In dieser Saison darf Hirscher in 20 Rennen (ausgenommen Weltcup-Final) direkt nach den ersten 30 starten. Der niederländische Verband, für den Hirscher fährt, muss zwar bei der FIS jedes Mal einen Antrag stellen. Angenommen wird dieser aber sowieso. Hirscher erhält also Planungssicherheit. Was sonst niemand hat. Nicht einmal Marco Odermatt kann sich sicher sein, stets mit Nummern zwischen 1 und 7 zu starten, wenn die Resultate ausbleiben. Und die Fahrer in den hinteren Startregionen drohen im Misserfolgsfall gar weit zurückzufallen.
Der Ärger der Gegner ist nachvollziehbar. Denn: Ohne die für ihn eingeführte Sonderregel dürfte Hirscher gar nicht teilnehmen. Er gehört im Ranking nicht ansatzweise zu den 150 Besten der Disziplin, hätte sich erst über drittklassige FIS-Rennen nach vorne arbeiten müssen. Dass den Altstars jener beschwerliche Weg erspart bleibt, mag vertretbar sein. Weitere Geschenke aber sind gewiss nicht angebracht.
Es heisst, Comebacks wie jenes von Hirscher seien gut fürs Geschäft und für die TV-Präsenz. Mag sein. Aber die Skifans würden noch länger zuschauen, wenn Hirscher hinten starten würde. Odermatt etwa sagt: «Wenn er mit der 50 fahren würde, wäre es spannender. Die Leute würden sehen, dass nach der Spitze 30, 40 weitere Athleten folgen.» Er goutiert die Regel nicht: «Die FIS macht etwas Grosses kaputt. Nämlich die hintersten 30 Fahrer.» Dass Hirscher die ganze Saison mit der vergleichsweise guten Nummer starten kann, findet er unfair.
Jahrelang galt die FIS als verstaubt und konservativ, mit langsam mahlenden Mühlen. Die Wildcard-Regel aber wurde mir nichts, dir nichts eingeführt. Dass dies in Absprache mit den Athletinnen und Athleten geschehen sein soll, war eine Lüge. Es passt zu diesem unnötigen künstlichen Eingriff.
Dafür: Hirscher gegen Odermatt? Dem Skisport kann nichts Besseres passieren.
Wo trainiert er, wie fit ist er, wie schnell fährt er, wird er auch wirklich starten? Es gibt bei Fans und Medien vor dem Saisonstart vor allem ein Thema: Marcel Hirscher und sein mögliches Comeback.
Der 35-Jährige könnte eine geradezu sensationelle Geschichte schreiben und dem Sport, den er so lange dominiert hat, zu viel Aufmerksamkeit verhelfen. Dass die Skiwelt nun tatsächlich darüber diskutiert, ob dem achtfachen Rekordweltcupsieger eine Wildcard erteilt werden soll oder nicht, ist nicht nur kleinlich, sondern geradezu peinlich.
Natürlich geht es im Skisport auch um Fairness, darum, dass sich Athleten einen Startplatz erarbeiten müssen; es geht um Regeln und komplizierte Berechnungen, die eine Startliste ergeben. Aber, und das vergessen viele, die sich in dieser kleinen Welt bewegen: Es geht vor allem um Unterhaltung. Was kann dem Skisport Besseres passieren als ein einstiger Dominator, der sich mit den heutigen Stars um Marco Odermatt messen will? Genau: nichts.
Würde Roger Federer in Wimbledon zurückgewiesen, würde er in einem Jahr zum Turnier antreten wollen? Mit Sicherheit nicht. Ihm würde der rote Teppich ausgerollt. Im Skisport aber wird lieber auf Regeln gepocht. Und wenn denn Hirscher unbedingt antreten muss, dann bitte erst mit der Startnummer 50, nicht schon mit der 31! Auf schlechterer Piste also, mit kaum Aussichten auf Erfolg. Das nähme dem Kräftemessen mit den Besten der Gegenwart nur unnötig die Würze.
Hinzu kommt: Federer würde in Wimbledon einem Spieler einen Startplatz wegnehmen. Hirscher, unter niederländischer Flagge startend, tut das nicht, lediglich die Nummer 31 ist für ihn reserviert.
In dieser Diskussion zeigt sich einmal mehr, wie Welten aufeinanderprallen. Auf der einen Seite die eingeschworene Skigemeinde mit der Mehrheit der Athletinnen und Athleten, die immer nach Reformen schreit und sich doch gegen jeden Vorschlag der Neuerung wehrt. Auf der anderen Seite ein Unternehmen, das sich der Show und dem Entertainment verschrieben hat.
Hinter Hirschers Projekt steht Red Bull, der Energydrink-Hersteller, der die Sportwelt seit Jahren aufmischt. Wenn Lucas Pinheiro Braathen in Sölden sein aufregendes Comeback für Brasilien gibt, tut er das unter den Fittichen der Unterhaltungsmaschinerie aus Salzburg. Warum wohl ist auf dem offiziellen Plakat der Weltcuprennen von Sölden das Konterfei des brasilianisch-norwegischen Doppelbürgers zu sehen und nicht dasjenige eines österreichischen Skifahrers? Weil der Sport die grossen Geschichten braucht. Und die grösste, die würde Marcel Hirscher schreiben.
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