Sinkende Geburtenrate in ItalienDie Angst vorm Aussterben
Der Bevölkerungsschwund alarmiert Italien: Nun orientiert man sich an der nationalkonservativen Familienpolitik von Viktor Orban. Ein fragwürdiges Rezept, sagen Wissenschaftler.

In der Villa Sciarra ist die Welt noch in Ordnung. Der Park auf dem Hang über Trastevere, dem früheren Arbeiterviertel Roms, mit Blick auf den Tiber und die Altstadt, ist ein beliebter Treffpunkt von Familien. Kinder toben über den Spielplatz, Eltern lagern auf dem Rasen. Ein Bild des Friedens und der Gewissheit: Es gibt noch Kinder in Italien. Man muss das eigens erwähnen, denn die Nachrichten suggerieren anderes. Im Land der Bambini werden nur noch knapp 400’000 Kinder pro Jahr geboren.
Die Geburtenrate italienweit liegt laut Berechnungen der UNO bei 1,29. Diese Ziffer gibt an, wie viele Geburten statistisch gesehen auf eine Frau im gebärfähigen Alter kommen. 2,1 Kinder wären nötig, damit die Bevölkerungszahl konstant bleibt. In der Schweiz beträgt die Geburtenziffer 1,39. Italien liegt im Vergleich mit anderen EU-Staaten ganz hinten, bei Malta und Spanien. Spitzenreiter sind Frankreich, Tschechien und Rumänien.
Und noch eine andere Schwelle ist in Italien 2022 unterschritten worden: Weniger als 60 Millionen Bürgerinnen und Bürger wurden gezählt. Bis 2070 könnten nur noch 48 Millionen Italiener übrig sein, vor allem Ältere. Die Geburtenraten haben sich zuletzt nach jahrelangem Sinkflug etwas stabilisiert, dürften aber noch lange auf vergleichsweise niedrigem Niveau verharren.
Man kann das im Alltag auch schon sehen: In den vergangenen zehn Jahren haben nach Auskunft der Organisation Tuttoscuola 2600 Grundschulen und Vorschulen schliessen müssen. Es fehlen Arbeitnehmer, Fachkräfte, Erfinder. Längerfristig könnte das Rentensystem kollabieren.
Die Urangst der Nationalisten
Das alles treibt auch die rechte Regierung unter Giorgia Meloni um. Ihr Schlachtruf aus dem Wahlkampf 2022 hallt noch nach: «Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin eine Mutter.» Im letzten September war Meloni daher zum Demografiegipfel nach Budapest gereist, den der Rechtsnationalist Viktor Orban alle zwei Jahre ausrichten lässt. Der Ungar legt mit seiner Sozial- und Familienpolitik einen besonderen Fokus auf die Geburtenrate, die zeitweilig zu den niedrigsten in Europa gehörte. Er beschreibt seine Politik als wegweisend.
«Wir leben in einer Zeit, in der alles, was uns definiert, angegriffen wird.»
Wie Meloni und viele andere Nationalisten fürchtet auch der ungarische Ministerpräsident, dass sein Volk ausstirbt. Doch was die Geburtenrate angeht, hat die Fidesz-Regierung den Trend vorläufig umgedreht.
Erreicht hat das die Regierung, indem sie fünf Prozent des Bruttosozialprodukts in Familienleistungen fliessen lässt, in Steuernachlässe, verbilligte Wohn- und Autokredite für junge Familien, in finanzielle Unterstützung für In-vitro-Befruchtung. Hinzu kommen eine als christlich bezeichnete Rhetorik und Gesetzgebung, die traditionelle, möglichst grosse Vater-Mutter-Kind-Familien feiert und etwa die LGBTQ-Community mit sogenannten Kinderschutz-Gesetzen ins soziale Abseits zu drängen versucht.
Giorgia Meloni hielt an der Konferenz in Budapest die Keynote – und lobte Ungarn explizit als Vorbild. «Wir leben in einer Zeit, in der alles, was uns definiert, angegriffen wird», sagte die italienische Regierungschefin und setzte damit den Ton für einen gemeinsamen Kulturkampf: «Demografie ist nicht nur eines der wichtigsten Themen für unsere Nation. Es ist das Fundament, auf dem unsere Nation beruht.» Viktor Orban schlug in dieselbe Kerbe: Linke europäische Eliten, Defätisten und Klimahysteriker würden die Menschen in Angst versetzen, sodass sie keine Kinder mehr bekämen.
Aber: Anders als Meloni, die qualifizierte Zuwanderung aus dem Ausland befürwortet, blockt Orban nicht nur Migration allgemein, sondern auch Arbeitsmigration ab. Sein Credo: «Ungarische Kinder statt Migranten.» Ende Oktober hat die Orban-Regierung neue Finanzhilfen angekündigt: Je höher die Kinderzahl, desto billiger die Staatskredite für Anschaffungen.
Der Demografieexperte Wolfgang Lutz war ebenfalls nach Budapest gereist. Orban habe entdeckt, sagt Lutz, dass man mit den Themen Demografie und Geburtenpolitik unter den Rechtskonservativen und Christen auf der Welt punkten könne. Der Ungar spreche damit die Urangst von Nationalisten an, dass ihnen ihr «Volk abhandenkommt». Zugleich vereinnahme er das Thema Familie – «als ob Familie an sich etwas Konservatives wäre».

Lutz ist auch Berater der EU-Kommissionsvizepräsidentin Dubravka Suica, die in Brüssel das Ressort «Demokratie und Demografie» leitet. Laut Suica begreifen populistische Politiker den Bevölkerungsrückgang als Bedrohung und machen die Demokratie als System dafür verantwortlich. «Wo Bevölkerungszahlen sinken, machen Nationalisten Boden gut.» Auch Brüssel beobachtet mit Sorge, wie Familienpolitik gemacht – und wie sie geframt wird.
Demografieforscher hatten noch vor einigen Jahrzehnten mit wachsender Panik davor gewarnt, dass die Weltbevölkerung exponentiell steigen werde. Inzwischen geht man aber davon aus, dass eine Stagnation oder sogar ein Rückgang bis 2100 eintritt und die globale Bevölkerung etwa zehn Milliarden Menschen nicht übersteigen wird. Europa gehört dabei schon jetzt zu den Kontinenten mit dem stärksten Rückgang.
Subventionen und Interventionen
Der Forscher Tomas Sobotka, Experte für das Thema Familie und Fertilität, sagt heiter, das müsse ja kein Drama sein. Viele Regierungen versuchten mit unterschiedlichsten Mitteln gegenzusteuern. Dazu gehörten Finanzhilfen, Wohnungsbau, Erziehungszeiten und Kinderbetreuung. Das sei zwar nicht immer «extrem effizient», sagt Sobotka. Aber es helfe jungen Menschen dabei, ihren Familienwunsch zu erfüllen. «Und das ist schön.»
Sobotka hat zu der Frage geforscht, wie – beziehungsweise ob – politische Interventionen langfristig zu einer Steigerung der Fertilität beitragen können. Er bezeichnet jene als «Alarmisten», die den Geburtenrückgang in ihren Ländern mit dem Untergang von Kulturen und Zivilisationen gleichsetzten. «Pronatalismus» nennt er ihr Programm. Und das lässt sich an Ungarn und zunehmend auch an Italien beispielhaft erläutern.
Tatsächlich ist die Geburtenrate, die in Ungarn beim Amtsantritt Orbans vor mehr als zehn Jahren bei 1,26 Kindern pro Frau lag und damit am unteren Ende der EU-Statistik, mittlerweile auf knapp 1,6 gestiegen. Allerdings liegt Ungarn trotz hoher Investitionen im europäischen Vergleich nur im Mittelfeld. Viele Experten, darunter auch Sobotka und Lutz, sind zudem höchst skeptisch, was die langfristige Wirkung der ungarischen Familienpolitik angeht.
Lutz erklärt das statistisch – mit der sogenannten Gesamtfruchtbarkeitsrate – und politisch. Tatsächlich würden Frauen im Lebensverlauf nicht zwingend insgesamt mehr Kinder, sondern aufgrund gezielter Förderungen ihre Kinder im Zweifel nur zu einem anderen Zeitpunkt bekommen.

Der Verzögerungseffekt in wirtschaftlich schwierigen Phasen, den man etwa nach der Finanzkrise auch in Ungarn habe beobachten können, sei durch die Subventionen teils aufgehoben, erklärt Lutz weiter. Aber die Zahl der Kinder pro Frau steige damit nicht auf Dauer. Vielleicht ist deshalb auch die Geburtenrate in Ungarn in den letzten zwei Jahren wieder leicht gesunken.
Das könnte auch für Italien gelten, wo Melonis Regierung soeben für 2024 einige familienfreundliche Beschlüsse gefasst hat. Für bestimmte Babyprodukte wurde bereits die Mehrwertsteuer gesenkt, ab dem zweiten Kind sollen Kita-Gebühren erlassen werden, und die Mütter müssen keinen Sozialversicherungsbeitrag zahlen.
Das gehe in die richtige Richtung, sagt Francesco Billari, Wirtschaftsprofessor und Rektor der weltberühmten Bocconi-Universität in Mailand. Aber es reiche nicht. Billari erinnert sich an die Zeit, als Deutschland, Italien und Spanien Schlusslichter in Europa waren bei der Geburtenrate. Dann wurden in Deutschland mehr und mehr Familienleistungen beschlossen, das Land hat wieder die Schwelle von 1,5 überschritten.
Überall dort, wo Länder nennenswerte familienpolitische Leistungen einführen, steigt die Geburtenrate. Dabei geht es aber eben ausdrücklich nicht nur um Massnahmen, die direkt bei der Geburtenförderung ansetzen.
«Wer Kinder bekommt, ist lebenslang gefordert, mindestens die ersten 18 oder 20 Jahre», sagt Billari. Deshalb müsse der Staat den Eltern in dieser gesamten Spanne helfen, nicht nur mit Geld. Gefordert sei eine «familienfreundliche Politik» – längere Schulzeiten, Schulessen, kostenlose Kindergärten, höhere Mütterrenten, Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ganze Programm.
Ausserdem, sagt Billari, gebe es in Italien noch ein zweites gravierendes Problem: Frauen, die arbeiteten und gut verdienten, bekämen eher Kinder. Aber Italien hat bis heute eine der niedrigsten Frauenerwerbsquoten in Europa: 51,3 Prozent.
Subventionen und Interventionen – das allein sei keine dauerhafte Lösung, um die demografische Misere zu bekämpfen, betont Billari. Es brauche: Migration. Heute gebe es zu wenige Italiener im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, kurzfristig sei das aber nicht zu ändern. Erst wenn Italien konsequent Migranten aufnehmen, ausbilden und in den Arbeitsmarkt integrieren würde, sagt Billari, könne der Trend gedreht werden.
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