Wissenschaft des SingensWarum berührt uns Gesang so sehr?
Singen berührt unmittelbar. Was stellt diese Kunstform im Gehirn der Zuhörer an?

- Musikhören erfordert die Zusammenarbeit mehrerer Gehirnregionen für Rhythmus und Melodie.
- Künstliche Stimmen können das menschliche Timbre noch nicht überzeugend nachahmen.
- Gesang hat möglicherweise evolutionäre Ursprünge, die über kulturelle Unterschiede hinausgehen.
Beim Social-Media-Scrollen an Flamenco-Akustikversionen des katalanischen Popstars Rosalía hängen bleiben, im Jazzclub der dunklen Stimme der Sängerin lauschen oder einen Kinderchor mit herzzerreissender Ernsthaftigkeit singen hören: Gesang gibt in vielen Momenten das Gefühl, unmittelbar angesprochen zu sein. Wie kann die menschliche Stimme so einfangen und berühren?
Wolfgang Mastnak ist Mediziner und Musikpädagoge, er lehrt an der Hochschule für Musik und Theater München. Musikhören ist hochkomplex. Das Gehirn transformiert Töne in ein neurologisches Muster, wie alle Reize von aussen. Mastnak zeichnet den Weg der Klänge nach: Vom Corti-Organ des Innenohrs, dessen Hörschnecke die Hörrezeptoren beherbergt, wandert das Tonsignal in den Hirnstamm und über den Thalamus in die Hörrinde. Dort wird es decodiert. Der auditive Kortex verarbeitet die Reize und sendet sie unter anderem ans limbische System, das schliesslich Emotionen generiert und verarbeitet. Dort entscheidet sich, ob uns das Gehörte berührt, wenig bewegt oder einfach nervt. «Da geht es vom Physiologischen über ins Psychische», sagt Mastnak. «Wie das Hören geprägt wird, hat mit emotionalen Prozessen zu tun.»
Dafür arbeiten mehrere Regionen zusammen: Der rechte untere Frontallappen erkennt Mikromelodien, den Rhythmus eines Musikstücks entschlüsselt das Gehirn an anderer Stelle. Mastnak sagt: «Fürs Gehirn werden Ton und Takt in zwei verschiedenen Systemen generiert, wir empfinden es aber als Einheit.» Ob man damit dann etwas anfangen kann, hängt vom Geschmack ab.
Dennoch gibt es Stücke, denen sich kaum jemand entziehen kann. Das dramatische «O Fortuna» aus Carl Orffs «Carmina Burana» etwa, mit dem aufgepeitschten, von Pauken angetriebenen Chor. Es ist sehr beliebt, um Emotion zu erzeugen, in mehr als hundert Film-Soundtracks taucht es auf, von «Excalibur» bis «Shrek: Oh du Shrekliche». So sehr, dass es ein parodisches Element geworden ist.
Vielleicht liegt sein Effekt auch daran, dass es ein Chor ist, denn auf Gesang sind auch ungeschulte Ohren besonders gepolt. «Wir Menschen sind sehr gut darin, Hinweise aus der Stimme zu lesen. Das komplexe Signal bekommt von uns sofort Aufmerksamkeit», sagt Pauline Larrouy-Maestri. Am Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik (MPEA) in Frankfurt erforscht sie, wie Menschen Klänge verstehen.
Computergenerierte Stimmen fliegen auf
In Analysen werten Neurowissenschaftler neben der Tonhöhe, dem Umfang, dem Rhythmus und der Lautstärke auch das Timbre, also die Klangfarbe des Gehörten, aus. «Auch Laien können diese Details sehr genau wahrnehmen – auch wenn sie nicht das Vokabular haben mögen, um sie zu beschreiben», sagt Larrouy-Maestri.
Diese Feinheiten machen die menschliche Stimme zu einem so komplexen Klangmuster, dass selbst KI-gestützte Programme sie bislang nicht überzeugend imitieren können. Die koreanische Avatar-Band Mave etwa füllt mit ihren Shows Stadien, die Figuren sind computergeneriert. Aber für die Stimmen braucht es noch immer echte Menschen.
Firmen wie Neosapience arbeiten zwar daran, Computer überzeugend singen zu lassen. Aber noch können Menschen künstliche Stimmen meist erkennen, wie noch nicht veröffentlichte Studienergebnisse von Larrouy-Maestri zeigen. Das Gehirn scheint Gesang sogar gesondert zu verarbeiten: Ein Team um Sam Norman-Haignere von der Universität Rochester hat 2022 eine Neuronen-Gruppe im Gehirn identifiziert, die nur beim Hören von Gesang aktiv wird – nicht aber bei Instrumentalmusik oder gesprochener Sprache.
Maori, Basken oder Yoruba: Gesang ist universell
Aber wo beginnt überhaupt Singen und wo hört Sprechen auf? Die Frage stellt sich tatsächlich nicht nur bei Charli XCX, deren gekonnt gelangweilter Sprechgesang den «brat summer» und Kamala Harris’ Wahlkampf untermalte. Sie beschäftigt auch Wissenschaftler. Wolfgang Mastnak definiert Gesang so: «Wenn man die Tonhöhe und Tonqualität auf eine Weise verfremdet, die für verbale Kommunikation nicht unbedingt notwendig wäre.»
Ein Team aus 75 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat solche nicht notwendigen Verfremdungen, also Lieder, aus ihren jeweiligen Kulturen untersucht: arabische, baskische, senegalesische, Cherokee-, Maori- und Yoruba-Songs. Die Studie ist im Fachmagazin «Science Advances» erschienen. Über die Kulturen der Welt hinweg haben die Songs gemein, dass sie langsamer sind als die jeweilige gesprochene Sprache und dass sie in einer höheren und stabileren Tonlage vorgetragen werden. Ein zweites Forscherteam fand im Juni ebenfalls kulturübergreifende Merkmale, die Gesang ausmachen («Nature Communications»).
Sie schliessen daraus: Singen ist keine rein kulturelle Entwicklung, obwohl es natürlich grosse kulturelle Unterschiede gibt. An sich könnte Gesang einen evolutionären Ursprung haben, der für alle Menschen gleich ist. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass Singen so unmittelbar auf Menschen wirkt.
Rührung, die süsse Qual
Eugen Wassiliwizky untersucht am MPEA, wie diese Wirkung entsteht. Der Neuropsychologe testet, was bei Probanden emotionale Gänsehaut erzeugt. Er testet dabei die Wirkung von Gedichten und Instrumentalmusik getrennt, den Gesang hat er ausgeklammert. «Gesang verbindet Sprache und Musik, diese Kombination ist noch mächtiger», sagt Wassiliwizky. Eine Kamera, die Wassiliwizky Goose-Cam nennt, filmt einen kleinen Armausschnitt der Probanden. Die Aufnahmen werden danach ausgewertet, wann die Härchen sich zur Gänsehaut erheben.
Inspiriert hat Wassiliwizky bei seiner Rührungsforschung ein Aufsatz von Friedrich Schiller: «Schiller schrieb, in Rührung sei Leiden und die Lust am Leiden. Und er hatte recht», sagt Wassiliwizky. Denn die Rührung lässt sich in zwei Teile zerlegen: negative Emotion und gleichzeitiges Vergnügen. Ersteres verrät im Experiment der zuckende Augenbrauenmuskel, der Corrugator, und das Vergnügen misst sich über Gehirnaktivität im Belohnungszentrum.
Traurige Musik lasse besonders häufig vor Gänsehaut schaudern, sagt Wassiliwizky. «Wir neigen dazu, negative Emotionen wie Trauer schneller und stärker wahrzunehmen. In den Künsten führt die mitgefühlte Traurigkeit, während wir uns gleichzeitig eigentlich in Sicherheit befinden, zu einem intensiven Erlebnis.»
Fürs Gerührtsein ist also noch eine weitere Komponente wichtig, das Mitgefühl. Wer sich nicht mit der Heldin einer Oper oder dem lyrischen Ich in einem Song verbunden fühlt, an dem geht die Darbietung vorbei. «Wenn ich denke: ‹Was interessieren mich seine Probleme?›, dann ist keine Rührung möglich», sagt Wassiliwizky.
Musikalische Erzählung wirkt ohne Worte
Erstaunlich an Musik ist allerdings, dass dieses Mitfühlen auch ganz ohne konkrete Probleme eines Protagonisten funktioniert, entweder weil es keinen Text gibt oder weil man ihn nicht versteht. Denn Gesang muss keine wörtliche Bedeutung vermitteln. Eine musikalische Erzählung – die mit Erwartung, Wiederholung, unerwarteter Spannung und Auflösung arbeitet – funktioniert auch so.
Pauline Larrouy-Maestri hat in ihrer Forschung festgestellt: Es gibt keine Formel in der Musik, die verlässlich etwas erzeugt, das alle mögen. Aber die Lieblingsmomente haben Gemeinsamkeiten. Eine davon ist ihre Funktion.
In einer aktuellen Studie im Fachjournal «PNAS» haben finnische Forscher gezeigt, dass es unter anderem solche Übergänge in der Musik sind, die Gehirnaktivität auslösen. Das Gehirn ist gut im Segmentieren von Klang, also im Unterteilen in bedeutsame Abschnitte. Das braucht es, um aus Bildern, Geräuschen und Gerüchen sinnvolle Informationen zu machen. Dafür muss es Abgrenzungen erkennen: Wo endet der Satz, wo hört die Türklinke auf?
Offenbar funktioniert es bei Musik so ähnlich. Das Gehirn versucht laufend, den Fluss an musikalischer Information in sinnvolle Einheiten zu gliedern. Es verarbeitet Lautstärke, Tonhöhe, es extrahiert Muster und will voraussagen, was als Nächstes passiert. Die finnischen Forscher haben 18 Profimusikern und 18 nicht musikalisch gebildeten Laien Progressive Rock, argentinischen Tango und die ersten drei Teile des «Sacre du Printemps» von Igor Strawinsky vorgespielt. Auf den MRT-Aufnahmen zeigte sich eine erhöhte Aktivität während musikalischer Übergänge, etwa wenn die Strophe endet und in den Refrain übergeht oder bei Harmoniewechseln.
«Keine musikalische Vorbildung, um ein guter Zuhörer zu sein»
Dabei waren die Hirne der Musiker stärker aktiv als die der Laien, ein Effekt, den auch andere Studien gezeigt haben: Musikerhirne reagieren generell stärker auf Musik. Trotzdem sagt Pauline Larrouy-Maestri: «Man braucht keine musikalische Vorbildung, um ein guter Zuhörer zu sein. Jede Person ist fähig, etwas zu mögen oder nicht zu mögen und darin konsistent zu sein.»
Neben musikalischen Übergängen machten etwa harmonische Spannung und Auflösung, also der Wechsel von einem dissonanten zu einem reinen Akkord, Lautstärkewechsel oder Synchronität berührende Momente aus, fügt Mastnak hinzu.
Und Gesang ist sehr persönlich. Für jeden kann etwas anderes berührend sein, etwa weil es Erinnerungen weckt.
Musik müsse aber nicht zwingend direkt mit einer Emotion verbunden sein, um zu berühren, sagt der Mediziner und Musiker Mastnak. Chormusik aus der Renaissance etwa kann weit weg sein von emotionalen Ausdrücken, anders als barocke Seufzer oder romantische Crescendi, eher formelhaft klar. Aber sie kann trotzdem das Gefühl erzeugen, dass man beim Zuhören in den musikalischen Moment eintaucht.
«Wenn Musik mich berührt, werde ich mit ihr eins», sagt Mastnak. Das spüren viele Menschen tatsächlich als räumliche Verlagerung: «Erst hören sie die Musik ein paar Meter von sich entfernt. Aber ab dem Moment, wo sie eintauchen, hören sie die Musik nicht mehr wie von aussen, sondern haben das Gefühl, die Musik wäre in ihnen. Das kann sich wie innerliche Ruhe anfühlen oder wie Mitschwingen mit der Musik oder ein Ausbalanciertsein.»
Das alles vollbringen die musikhörenden Gehirne also ohne bewusste Analyse. Aber wie löst zum Beispiel Carl Orff das mit «O Fortuna» aus der Carmina Burana aus? Mastnak sagt: «Orff geht von Rhythmen aus, die etwas Archaisches haben. Der mächtige Chor erzeugt ein Spannungsgefühl, dem man sich nicht entziehen kann.» Das gleiche Gefühl wie in skandierenden Mengen, etwas Herdenbildendes übertrage sich auch beim Hören. «Wir können mit Musik Sozialbindungen steuern. Körperrhythmen gleichen sich dabei zwischen Personen an, Atmung, Bewegung, sogar der Herzschlag.»
Der individuelle Zauber aber entsteht dabei erst in jedem einzelnen Kopf. Man könnte sagen: Schönheit liegt im Ohr des Hörers.
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