Kolumne von Markus FreitagSind Sie nett?
Früher auf dem Pausenplatz wurden die Netten zwar gemocht, Respekt hatte man aber eher vor den Streitsüchtigen. Wie ist das in der Politik? Und bei Ihnen?
Nett! Was hat diese Eigenschaft hierzulande für eine Konjunktur erlebt. Während vor über 30 Jahren die mittlerweile grösste Partei damit anfing, neben den Linken vor allem die Netten für den ganzen Schlamassel in unserer Politik verantwortlich zu machen, wird heute nur Bundesrat, wer auch genügend gmögig ist. Und vielleicht erinnern Sie sich noch: Früher auf dem Pausenplatz wurden die Netten zwar gemocht, Respekt hatte man aber eher vor den Streitsüchtigen. Wie ist das eigentlich bei Ihnen? Halten Sie sich für liebenswürdig? Oder sind Sie vielleicht sogar eine Spur zu nett?
Fragt man die Menschen in der Schweiz nach ihren wesentlichen Charakterzügen, erklären sich zwischen 30 und 40 Prozent für besonders verträglich, also für bescheiden, altruistisch, mitfühlend, warmherzig und – nett. Sie nehmen für sich in Anspruch, rücksichtsvoll und freundlich zu den Mitmenschen zu sein und diesen verzeihen zu können. Der Gedanke an Täuschung, List oder manipulative Schmeichelei liegt ihnen fern. Weniger verträgliche Personen verhalten sich dagegen eher eigennützig, misstrauisch und angriffslustig. Letztere sind nach eigenen Einschätzungen eher in der Westschweiz und im Tessin sowie eher unter Männern als Frauen anzutreffen. Auswertungen weltweiter Daten legen überdies nahe, dass in der Schweiz wie auch in Belgien und den Niederlanden vergleichsweise viele Unverträgliche leben. Kein Wunder, dass gerade in diesen Ländern die Idee der Konkordanz in die politischen Institutionen getragen wurde, um die Streithähne einzufangen.
Bereit für einen abschliessenden Charaktertest?
Laut wissenschaftlichen Erkenntnissen betonen charmante Menschen die guten Eigenschaften anderer, wenn über diese geplaudert wird, und beteiligen sich ungern an Gerüchten. Nette gelten im Arbeitsprozess als verlässliche Teamplayer und Moderatorinnen, zeigen sich aber weniger geeignet als Führungspersönlichkeiten. Ferner ist bekannt, dass sich die Netten eher zu rührseligen Romanen hingezogen fühlen und sich weniger über grammatikalische Unzulänglichkeiten in E-Mails grämen. Nette Menschen rühren lieber den sozialen Kitt an und halten die Gesellschaft zusammen. Gesetzen und Vorschriften zu folgen, gehört bei ihnen ebenso zum bürgerlichen Tugendkanon wie die Unterstützung von Menschen im In- und Ausland. Niemand weiss besser als die Netten, dass wir nur einen Mund, aber zwei Ohren besitzen.
Diese auf Solidarität bedachten Personen ordnen sich selbst eher im linken Spektrum der politischen Ideologien ein. Sie wehren sich gegen Ungleichheiten wie auch gegen eine Abschottung der Schweiz. Sie vertrauen zudem ihrer Umgebung und dem Bundesrat nahezu blind und unterstützen die Art und Weise, wie die Demokratie funktioniert. Allerdings lässt sich dieser Menschenschlag nur sehr schwer für die Politik begeistern. Die dort praktizierten Fehden sowie die teilweise rigorose Artikulation und Durchsetzung eigener Interessen auf Kosten der Harmonie entsprechen nur wenig ihrem Wesenszug. Die Netten bringen gerade wohl auch deshalb der SVP und deren eher ausgrenzendem und konfrontativem Kurs nur sehr wenig Sympathie entgegen.
Und? Bereit für einen abschliessenden Charaktertest? Dann seien Sie doch bitte so lieb und überlegen einmal, wie Sie zu den folgenden drei Aussagen stehen: «Ich bin jemand, der rücksichtsvoll und freundlich mit anderen umgeht», «Ich bin manchmal etwas grob zu anderen» und «Ich bin jemand, der schnell verzeihen kann». Ach ja: Nette Menschen zeigen immer viel Verständnis für solche Aufrufe zur Selbsteinschätzung.
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