Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen
Meinung

Kolumne von Markus Freitag
Bin ich ein Spaltpilz?

Die Schweiz ist keine eine Oase der Friedfertigen mehr: Freiheitstrychler protestieren vor dem Bundeshaus im März 2023.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Überlegen Sie einmal: Würden Sie es gutheissen, wenn Ihre Kinder jemanden heiraten würden, der politische Ansichten vertritt, die Sie ganz und gar nicht teilen? Oder hätten Sie vielleicht ein Problem damit, wenn Ihre nächsten Nachbarn feurige Anhänger der Partei wären, die Sie am meisten ablehnen? Derartige Fragen halten die amerikanische Gesellschaft seit geraumer Zeit unter dem Stichwort der «affektiven Polarisierung» auf Trab.

Mit dieser Form der gesellschaftlichen Spaltung ist nicht gemeint, dass die einen (die Demokraten) immer linker und die anderen (die Republikaner) immer rechter werden. Vielmehr wird darauf geschaut, wie das Miteinander zwischen diesen beiden Gruppen ausfällt. Dabei geht es im Kern um das Verhältnis zwischen einer emotional aufgeladenen Bindung an das eigene Team und einer tief sitzenden Feindseligkeit gegenüber der gegnerischen Formation. Sind Sie beispielsweise eine überzeugte Demokratin, die rein gar nichts auf ihre Weggefährten kommen lässt, aber gleichzeitig auf Kriegsfuss mit den Republikanern und deren Ideen steht, sind Sie gefühlsmässig hochgradig polarisiert.

Werden die Ansichten des Gegenübers nicht mehr toleriert und dienen allein die Standpunkte der hauseigenen Mentalitätsbubble als Kompass im Polit-Dschungel, können derartige Polarisierungen Gesellschaften umpflügen und tiefe Risse im sozialen Kitt auslösen. Amerikanische Studien sorgen sich hier aber nicht nur um den sozialen Zusammenhalt polarisierter Mitbürgerinnen und Mitbürger, sondern verweisen ebenso auf deren Demokratie gefährdendes Potenzial, wenn sie grundlegende Prinzipien des politischen Spiels nicht mehr befolgen. Bruchstückhaft vorliegenden Daten zufolge gehört auch die Schweiz immer weniger zu einer Oase der Friedfertigen.

Mit anderen Worten: Die landauf, landab beklagte wachsende ideologische Polarisierung an den linken und rechten Rändern schlägt zunehmend auch in einen Graben voller negativer Gefühle zwischen den parteipolitischen Lagern um. Eine gruppenbezogene Polarisierung kapriziert sich allerdings nicht allein auf parteipolitische Zugehörigkeiten. Denkbar sind solche Lagerbildungen auch bei Sachthemen wie beispielsweise dem Genderstern und der grenzenlosen Zuwanderung. Gehören Sie hier zu den Befürwortern oder zu den Gegnern? Und was halten Sie eigentlich vom jeweiligen Widerpart?

Kurz vor der nächsten Abstimmung erinnern wir uns diesbezüglich an Corona: Inmitten der Pandemie tat sich ein solcher Graben zwischen Impfskeptikern und Impfbefürworten auf. Daten aus eigenen Befragungen zeigen, dass die beiden Lager in der Schweiz nur wenig Sympathie füreinander empfanden. Beidseits der Bruchlinie unterstellte man sich Selbstsucht, Engstirnigkeit und fehlende Bereitschaft zur Reflexion und zu Kompromissen. Und je mehr auf beiden Seiten der Eindruck entstand, Gerechtigkeit und Fairness würden mit Füssen getreten, umso tiefer wurde die gesellschaftliche Kluft.

Zuhören statt niederschreien!

Die europaweiten Daten bestätigen diese Zusammenhänge auch für Frankreich, Spanien, Italien, Grossbritannien und Deutschland. Zudem waren die gegensätzlichen Auffassungen über die Impfung ein Stresstest für demokratische Gesellschaften: Stark polarisierte Menschen diesseits und jenseits des Impfgrabens präferierten starke und autoritäre Führungspersonen und berichteten nur wenig Vertrauen in Menschen mit einer anderen Meinung.

Einer demokratischen Streitkultur dient der Pluralismus der Ansichten aber als lebensnotwendige Luftzufuhr. Audiatur et altera pars. Zuhören statt niederschreien. Nur so vermag die Gesellschaft ihre Gräben zuzuschütten und sich vom Kamel zum Dromedar zu wandeln.

Markus Freitag ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern. Im Wahljahr schreibt er jeden zweiten Freitag über unser Seelenleben.