Mountainbikerin Sina FreiNach dem Handbruch droht das Olympia-Aus
2021 gewinnt die Uetikerin Sina Frei olympisches Silber. Doch seither kämpft sie mit Rückschlägen – und verpasst höchstwahrscheinlich die Spiele in Paris. Wie es ihr geht und was sie plant.
Nach dem Rennen setzt sich Sina Frei an diesem wechselhaften Frühlingstag Anfang Mai nochmals auf ihr Mountainbike und fährt von Chur zurück nach Uetikon. Doch was als lockeres Aus- und Heimfahren gedacht ist, wird zur kleinen Tortur. Die Hand schmerzt. Inzwischen ist es ein paar Stunden her, dass sie an der Bike Revolution in Chur in einer Teerkurve gestürzt ist.
«Es hat mehr wehgetan als sonst. Trotzdem hab ich mir gedacht, das wird schon wieder», sagt die 26-Jährige. Erst nach einigem Zureden lässt sie sich röntgen – und erhält Entwarnung. Erleichtert trainiert sie weiter und beisst auf die Zähne. Es stehen entscheidende Rennen in Europa und die Selektion für Olympia an.
Doch als die Schmerzen auch zehn Tage später noch immer nicht abklingen, lässt sie sich nochmals untersuchen. Und diesmal ist die Diagnose folgenschwer: Fraktur an der linken Hand. Sina Frei trägt nun eine Schiene und die Frage mit sich herum, ob sie am Weltcup in Nove Mesto am 24. Mai starten soll oder nicht. Das Rennen in Tschechien wäre die letzte Chance, sich mit einem Exploit noch ein Olympiaticket für Paris zu sichern.
Uetikon statt Nove Mesto
Sina Frei ist hin- und hergerissen. Eine innere Stimme sagt: «Du kannst ja tapen und aufpassen.» Die andere mahnt: «Wenn du nochmals stürzen solltest und operieren musst, verlierst du noch viel mehr von dieser Saison.» Die Strecke in Nove Mesto mit ihren vielen Wurzeln und Schlägen ist unberechenbar, aber sie liegt Frei. Hier fuhr sie 2023 im Shorttrack aufs Weltcuppodest.
Am Ende ist der 1,51 Meter kleinen Mountainbikerin, die bekannt ist für ihren grossen Willen und ihre Leidensfähigkeit, das Risiko doch zu gross. Statt Tschechien bleibt für sie Uetikon, Training, ein Zoobesuch, um auf andere Gedanken zu kommen, und ein paar kreative Stunden im Malatelier ihrer Tante. «Gut, bin ich Rechtshänderin», sagt Sina Frei und lacht.
Die Selektionen für die Olympischen Spiele in Paris werden derweil ohne sie gemacht. Jolanda Neff und Alessandra Keller sichern sich die beiden Schweizer Tickets im Mountainbike der Frauen. Sina Frei hingegen muss die Olympiarennen aus ihrem Kalender streichen. Und das tut sie, spürbar enttäuscht, aber ohne sich in negativen Gefühlen zu verlieren: «Ich rücke jetzt andere Ziele in den Fokus.» Noch könnte es passieren, dass Jolanda Neff aufgrund ihrer aktuellen gesundheitlichen Probleme in Paris nicht starten kann. Dann würde Frei nachrücken. Doch damit will sie nicht rechnen.
Magische Momente in Tokio
Was Sina Frei in der aktuellen Situation Gelassenheit gibt, sind die Erinnerungen an die magischen Momente in Tokio: Am 27. Juli 2021 gewinnt sie im Cross-Country Olympiasilber – und sorgt zusammen mit Jolanda Neff und Linda Indergand für ein historisches Schweizer Olympia-Triple. Sie sagt: «Was ich in Japan erlebt habe, kann mir niemand mehr nehmen.» Auch drei Jahre danach lassen sich die Emotionen bei der Zieldurchfahrt nur schwer in Worte fassen. Frei findet, «verzaubert und auf eine ganz besondere Weise erlösend» komme der Sache am nächsten.
Neben der Silbermedaille und einer Reihe unvergesslicher Eindrücke nimmt Sina Frei aus Tokio auch ein handfestes Erinnerungsstück mit. Die einzelnen Abschnitte des Olympiarennens wurden mit Tafeln gekennzeichnet. Ein solches Exemplar steht nun in Freis Trainingsraum. Und hier ist sie gerade täglich.
Sina Frei trainiert inzwischen wieder intensiv für die bevorstehenden drei Weltcuprennen in Europa und die Zeit nach Paris. «Dass ich Olympia verpasse, hat auch seine Vorteile», sagt sie. «Ich habe nun die Zeit, mich perfekt auf die Weltmeisterschaften Ende August einzustellen.» Dazu gehört etwa ein Höhentraining auf dem Berninapass als Vorbereitung auf die WM-Rennen in Andorra auf 2000 Metern Höhe.
Im Herbst verfolgt Frei ihre Pläne dann weiter in Nordamerika. Nach der Marathon-WM in Snowshoe startet sie noch an Rennen in Kanada und den USA. Das Ziel ist klar: «Top 3 im Cross-Country-Weltcup.»
Dieser Podestplatz ist die einzige signifikante Leerstelle in Freis Palmarès. Denn 2021 hat sie fast alles abgeräumt: Silber an den Olympischen Spielen in Tokio, Gold an der WM im Shorttrack, Bronze im Cross-Country, Gesamtsieg am Cape Epic. Der Spitzenplatz im Weltcup scheint nach diesem Überfliegerjahr nur eine Frage der Zeit zu sein.
Es geht noch schlimmer
Doch im Folgejahr 2022 kommt Sina Frei einfach nicht auf Touren. Mit Silber an der Premiere der Gravel-WM kann sie die verkorkste Saison immerhin versöhnlich beenden. «Das waren die schlechtesten Monate meiner ganzen Karriere. Ich dachte damals, schlimmer kann es nicht kommen», bemerkt Sina Frei. 2023 belehrt sie eines Besseren. Zu den unbefriedigenden Resultaten gesellt sich in diesem Jahr noch ein übler Sturz im Shorttrack an der WM in Schottland.
Im Worldranking ist die Olympiazweite inzwischen von Rang 4 im Jahr 2021 auf den 36. Platz zurückgefallen. Ihre Motivation ist es nicht. «Die Freude am Velofahren ist tief in mir drin. Ich sitze immer noch mit derselben Leidenschaft im Sattel wie früher», betont Frei. Früher, das war auch die Zeit, als sie bei den U-23 auf dem Podest einen Stammplatz hatte. Insgesamt gewann sie in der ältesten Nachwuchskategorie zwölf Weltcuprennen und zwei Weltmeistertitel.
Erfolgsverwöhnt sei sie gewesen, sagt Sina Frei. Und: «Ich bin überzeugt, dass mich die jüngsten Rückschläge mittelfristig stärker zurückkommen lassen.» Freis Team bei Specialized Factory Racing und ihre Familie geben ihr den nötigen Rückhalt. Sie lächelt und sagt: «Mein Bruder und meine Eltern sagen oft zu mir: Egal, wie das Resultat ausfällt, wir sind immer stolz auf dich.»
Erwartungsgemäss fällt das Urteil der Profisportlerin Sina Frei strenger aus als das ihrer Vertrauten. Die Weltcuprennen zum Saisonauftakt im April in Brasilien stempelt sie mit «mittelmässig» ab. Zufrieden ist sie mit dem Top-Ten-Platz im Shorttrack, den sie trotz der Kollision mit einer gestürzten Konkurrentin auf der zweitletzten Runde noch herausfahren konnte.
Doch ihr ist klar: «Das geht noch besser.» Vielleicht noch nicht am kommenden Wochenende, wenn sie im Val di Sole wieder auf die Weltcupstrecke zurückkehrt. Schon eher am Heimweltcup in Crans-Montana sieben Tage später. Definitiv aber im Herbst an den Rennen in Übersee.
Spätestens dann möchte «Little Rocket» – diesen Spitznamen hat sich Sina Frei innerhalb ihres Teams verdient – zur nächsten sportlichen Sternstunde aufbrechen.
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