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Umzug in ein Tiny House
Sie wohnen zu zweit auf 25 Quadratmetern

Mirjam und Theo Graf haben ihre Wohnfläche von 140 auf 25 Quadratmeter reduziert. 
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Es war ein Sonderbericht des Weltklimarats, der 2018 alles ins Rollen brachte. Theo Graf studierte die Aussagen und Berechnungen in diesem Report, wonach jeder Quadratmeter Wohnfläche zum CO₂-Fussabdruck beiträgt. «Je mehr Fläche jemand in Anspruch nimmt, desto grösser ist der Heiz- und Strombedarf», sagt er. Er ist soeben mit seiner Ehefrau Mirjam in ein Tiny House gezogen. Die beiden haben ihre Wohnfläche von 140 auf 25 Quadratmeter reduziert. Das winzige Haus steht in Gais in Appenzell.

Ein Leben ohne Krimskrams – wie soll das gehen? Tritt man sich nicht ständig auf die Füsse, wenn man zu zweit auf so wenig Wohnraum lebt? Was ist, wenn der eine schnarcht? Und wie funktionieren Trockentoiletten?

Mirjam Graf lacht. «Fragen über Fragen – so ergeht es vielen», sagt die Lehrerin, die demnächst in Rente geht. Sie sitzt am Esstisch, der aus Holz von Bäumen aus der Region angefertigt wurde. Das Fichtenholz strahlt viel Wärme und Gemütlichkeit aus. Ihr Mann Theo hat in den letzten Jahren die Nachfolge für seine Fensterbaufirma geregelt, in die er viel Zeit und Arbeit gesteckt hat. Er ist seit wenigen Wochen pensioniert. Die vier gemeinsamen Kinder sind längst ausgezogen. «Mit dem neuen Lebensabschnitt möchten wir ein Experiment wagen», sagt er. Beide sind euphorisch und gleichzeitig angespannt.

Der Traum von einem winzigen Eigenheim

Das Häuschen des Paars ist drei Meter breit und zehn Meter lang. Es ist präzise gebaut wie ein Uhrwerk. Jeder Zentimeter wird genutzt. Sie haben das Tiny House zwar als Paket gekauft, sind jedoch einige Male mit dem Erbauer und dem Architekten zusammengekommen, um ihre Vorstellungen abzugleichen. «Bei der Platzierung der Steckdosen hätten wir mehr mitreden sollen», sagt Mirjam Graf.

Mit der Casetta, wie Theo Graf das Kleinsthaus auch nennt, zeigen sich beide zufrieden. Stauraum bietet vor allem der doppelte Boden. Er öffnet eine Klappe in der Küche, darunter liegt eine Kiste mit Utensilien, die er zum Brotbacken benötigt. «Es gibt reichlich Platz», so Theo Graf. 

Stauraum unter dem Boden. Hier haben die Grafs Küchengeräte und Einmachgläser untergebracht.

Auch einen modernen Backofen mit integrierter Mikrowelle und Steamer haben sie angeschafft. Eine Fotovoltaikanlage erzeugt die elektrische Energie, die in einem Akku von fünf Kilowattstunden gespeichert wird. Auch ein modulares Büro mit einem ausklappbaren Schreibtisch ist vorhanden. Die Fenster gehen nach aussen auf, was ebenfalls Platz spart.

«Ausserdem haben wir uns einen kleinen Holzofen gegönnt», sagt Theo Graf und zeigt auf die Stube. Äusserlich sieht der Ofen wie ein Cheminée aus, wird aber mit Stückholz und Holzbriketts beheizt und produziert nur wenig CO₂. Auch die sogenannte Trocken-Trenntoilette ist umweltfreundlich: Urin und Fäkalien werden separat aufgefangen und kommen einerseits als Dünger zurück in die Natur beziehungsweise werden innert weniger Monate in Kompost verwandelt. «Das klingt umständlicher, als es wirklich ist», sagt Theo Graf.

Komfort auf nachhaltige Weise: Dieser Holzofen produziert nur wenig CO₂.

Das Tiny House ist eindeutig mehr als ein Wohnwagen. Auch eine eigene Waschmaschine mit integriertem Tumbler hat Platz im kleinen Badezimmer. Weil es in der Schweiz gesetzlich noch nicht möglich ist, in der Wohnzone eine autarke Wohneinheit zu erstellen, besitzt das Minihaus Anschlüsse für Frisch- und Abwasser, Stromanschlüsse und einen Glasfaserzugang. 

Das Häuschen steht zusammen mit drei weiteren Tiny Houses gleicher Bauart auf Betonstützen. Der Raum unter den Häusern kann als zusätzlicher Stauraum genutzt werden. Die Grafs bezahlen für das rund 200 Quadratmeter grosse Grundstück, für die Infrastruktur mit Treppen und Terrasse eine Miete von rund 500 Franken pro Monat. Mit einem Kran lässt sich das Tiny House aber auch umsiedeln.

Das Häuschen ist drei Meter breit und zehn Meter lang. Die Fenster kippen nach aussen, was Platz spart.

Kleinsthäuser werden in der Schweiz immer beliebter. Der Schweizer Verein «Kleinwohnformen» zählt inzwischen 1500 bis 1800 Mitglieder. Co-Präsident Alesch Wenger sagt: «Unsere Umfrage 2023 zeigt: Je länger die Mitglieder bei uns sind, desto mehr werden sie von Träumern zu Bewohnern einer Kleinwohnform.» Genaue Zahlen zu den Bewohnern kennt der Verein nicht. Ein Tiny House kann man in der Schweiz für 180’000 Franken kaufen. Der Betrag kann sich aber je nach Grösse und Ausbaustandard verdoppeln.

Kleiner Raum, aber hoher Standard

Die Gründe für das Interesse an Tiny Houses sind vielfältig: Die einen wollen ihren ökologischen Fussabdruck verringern, die anderen möchten sich von Ballast befreien und frönen einem minimalistischen Lebensstil. Einige wollen Kosten sparen, und wieder andere suchen wegen der Wohnungsknappheit in den Städten nach gänzlich neuen Wohnformen. Erst kürzlich lud Bundesrat Guy Parmelin Städte, Kantone und Verbände zu einem runden Tisch, um über Lösungen gegen die grassierende Wohnungsnot zu sprechen. 

Für Theo und Mirjam Graf stehen vor allem ökologische Überlegungen im Zentrum. «Komfort und Luxus sind auch auf eine nachhaltige Weise möglich», sagt Theo Graf. Wer ressourcensparend wohne, müsse keineswegs auf Lebensqualität verzichten. «Wir leben auf kleinem Raum, aber auf hohem Niveau.» Das Paar zählt weitere Vorteile auf: Es gebe weniger zu putzen, sie würden vermehrt Zeit draussen verbringen und sich öfters über Umweltthemen unterhalten. 

Im Schlafzimmer gibt es Platz für ein 1,60-m-Bett.

Die Erfahrungen im Tiny House stossen auch in der Nachbarschaft und im Freundeskreis auf reges Interesse. «Noch nie wollten so viele ehemalige Arbeitskollegen und Freunde zu uns nach Hause auf Besuch kommen», sagt Theo Graf. Und immer wieder kommen Spazierende in Gais vorbei, bleiben stehen, manchmal klopfen sie und bitten um Auskunft oder um eine Wohnungsbesichtigung. 

«Wie wir künftig Weihnachten feiern, war ein grosses Thema.»

Mirjam Graf

Beim Umzug ins Minihaus ging es auch ums Loslassen. Das ist Mirjam Graf schwerergefallen als ihrem Mann. Ihre Bücher, Schallplatten und Pflanzen hätte sie gern mitgenommen. Und ein Gestell, das sie seit ihrer Kindheit hat. Aber für all das gibt es schlicht keinen Platz. Theo Graf vermisst hingegen vor allem seinen Hobbyraum und die grosse Dachterrasse, die sie in ihrem vorherigen Haus hatten.

Es geht aber nicht nur um Materielles, sondern auch um Gewohnheiten. Beziehungen müssen neu ausgerichtet werden. Sie können ihre vier Kinder nicht mehr gleichzeitig einladen. «Wie wir künftig Weihnachten feiern, war ein grosses Thema», sagt Mirjam Graf. Sie entschieden, sich für Familientreffen irgendwo einzumieten. Oder beim Sohn zu feiern, der eine grosse Wohnung habe. Auch Waldweihnachten sei eine Option. «Es geht uns darum, flexibel zu bleiben – wir haben nicht für alles einen genauen Plan, aber wir stellen uns gern allen Herausforderungen, die es geben wird», sagt Mirjam Graf.

Sie sind zufrieden mit ihrem Minihaus: Mirjam und Theo Graf in ihrer Stube.

Die Grafs betonen: «Wir sind keine Öko-Freaks oder Aussteiger, sondern ganz normale Leute.» Sie wollen nach Brasilien fliegen, um ihre Tochter zu besuchen, die dort lebt. «Das macht uns kein schlechtes Gewissen, weil wir uns an anderen Stellen um den Klimaschutz bemühen», sagt Theo Graf. Er witzelt zwar, dass er seine Tochter und die Grosskinder mit dem Velo via Gibraltar und mittels Segelschiff besuchen könnte. Doch seine Frau macht da nicht mit. «Es gibt Ausnahmen, wir sind ja nicht verbissen.» Beide sind überzeugt: «Der Trend zu kleinen Wohnformen wird mit der Klimabewegung und der Wohnungsknappheit in den Städten zunehmen.»