Aussergewöhnlicher VersicherungsjobSie schlichtet zwischen Schwangeren und Arbeitgebern
Nicole Stadtmann kommt zum Zug, wenn ein Unternehmen und eine schwangere Mitarbeiterin in einen Konflikt geraten. Sie hat alle Hände voll zu tun.
Im August 2019 erhielt Erika Schlatter* die Kündigung als Verkäuferin in einer Ostschweizer Warenhausfiliale. Grund war ein Zerwürfnis mit ihrer Chefin. Als sie kurz darauf feststellte, dass sie schwanger war, musste ihre Arbeitgeberin die Kündigung zähneknirschend widerrufen.
Für Erika Schlatter wurde es dadurch nicht einfacher. Sie musste weiterhin stundenlang ohne grössere Pausen stehen, auch das Heben und Tragen schwerer Lasten blieb ihr nicht erspart. «Meine Chefin liess nicht mit sich reden», erzählt die Frau. Nach Blutungen wurde sie für einen Monat krankgeschrieben.
So kam sie in Kontakt mit Nicole Stadtmann. «Ohne ihre Hilfe», meint Schlatter rückblickend, «hätte ich kaum aus meiner misslichen Lage herausgefunden.» Stadtmann arbeitet beim Krankenversicherer Groupe Mutuel als sogenannte Casemanagerin-Hebamme. In dieser Eigenschaft handelte sie mit dem Warenhaus eine für die schwangere Mitarbeiterin zuträgliche Arbeit und Arbeitszeit aus. Dennoch wurde Erika Schlatter im März wegen eines Magengeschwürs zu 100 Prozent krankgeschrieben. Zwei Monate später brachte sie einen Sohn zur Welt.
Fast täglich ein neuer Fall
«Die Geschichte dieser Frau ist keineswegs aussergewöhnlich», sagt Nicole Stadtmann. Etwa 200 Mutterschaftsfälle landen jährlich auf dem Pult der ausgebildeten Pflegefachfrau und Hebamme. Weitere rund 150 Fälle bearbeitet ihre Kollegin in der Genferseeregion. Total ergibt dies fast täglich einen neuen Fall.
Was Stadtmann immer wieder erstaunt: «Unter den Arbeitgebern besteht ein weitverbreitetes Unwissen über die gesetzliche Regelung der Schwangerschaft.» Zum Beispiel dürfen Schwangere keine schweren Lasten heben, keine Tätigkeiten mit langem Stehen ausüben, nicht übermässigem Lärm, starker Kälte und Hitze, Erschütterungen oder schädlichen Stoffen und Strahlen ausgesetzt sein.
«Unter den Arbeitgebern besteht ein weitverbreitetes Unwissen über die gesetzliche Regelung der Schwangerschaft.»
Wenn sich solche Risikofaktoren nicht ausschliessen lassen, ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, der schwangeren Mitarbeiterin eine gleichwertige, ungefährliche Ersatzarbeit anzubieten. Diese Unwissenheit führt laut Stadtmann oft dazu, dass «Arbeitgeber die Ärzte ersuchen, schwangere Beschäftigte lieber gleich krankzuschreiben, anstatt die Arbeit oder den Arbeitsplatz entsprechend anzupassen».
Auf die Ärzte kommt es an
Darauf angesprochen, erklärt Daniella Lützelschwab, beim Schweizerischen Arbeitgeberverband zuständig unter anderem für Gesundheitsschutz: «Wir haben wenig Rückmeldungen zu den Einsatzmöglichkeiten von schwangeren Mitarbeiterinnen. Auch ist das Regelwerk klar: Schwangere Angestellte geniessen einen besonderen Schutz.»
Zugleich streicht die Arbeitgeber-Vertreterin die besondere Rolle der Ärzte heraus: «Sie sind es, die medizinische Beurteilungen zur Arbeitsunfähigkeit abgeben und professionell entscheiden müssen, was eine schwangere Mitarbeiterin machen kann und was nicht.» Die Arbeitgeber könnten solche medizinischen Fragen nicht beurteilen.
Mit Covid-19 hat sich das Konfliktpotenzial noch vergrössert, wie Kathrin Ziltener von der Gewerkschaft Unia feststellt: «Schwangere Frauen gelten als Risikopersonen, weshalb die Arbeitgeber entsprechende Schutzkonzepte für sie umsetzen müssen.» Das bedeute meist einen Mehraufwand für die Firmen.
«Schwangere Frauen gelten als Risikopersonen, weshalb die Arbeitgeber entsprechende Schutzkonzepte für sie umsetzen müssen.»
Und wenn sie diesen Schutz nicht gewährleisten und auch keinen für Schwangere angepassten Arbeitsplatz bieten können? «In einem solchen Fall kann eine Fachperson, etwa eine Gynäkologin, ein Beschäftigungsverbot für die schwangere Frau aussprechen», sagt die Gewerkschafterin.
Man mag nun einwenden, ob Schwangere wegen eines ärztlichen Arbeitsunfähigkeitszeugnisses oder wegen eines Beschäftigungsverbots vom Arbeitsplatz fernbleiben, sei belanglos. Ist es aber nicht: Im ersteren Fall kommt die Krankentaggeldversicherung für die Lohnfortzahlung auf, im letzteren Fall muss der Arbeitgeber die Lohnfortzahlung in Höhe von 80 Prozent des Lohns selbst tragen.
Personalverantwortliche sensiblisieren
«Fakt ist aber, dass in 95 Prozent unserer Fälle die schwangere Frau bereits arbeitsunfähig oder krankgeschrieben ist», sagt Stadtmann. Neben der Beratung und Betreuung von Schwangeren nimmt sich die Casemanagerin daher Zeit für Besuche von Unternehmenskunden der Groupe Mutuel.
Ziel sei, so erklärt sie, die Personalverantwortlichen zu sensibilisieren und ihnen die arbeitsrechtlichen Prozesse rund um die Mutterschaft zu erklären. Und sie fügt hinzu: «Wir müssen dahin kommen, dass eine Schwangerschaft in der Arbeitswelt als normales Ereignis und nicht als Krankheit behandelt wird.»
«Wir müssen dahin kommen, dass eine Schwangerschaft in der Arbeitswelt als normales Ereignis und nicht als Krankheit behandelt wird.»
Für die Groupe Mutuel zahlt sich Stadtmanns Effort in Form geringerer Aufwendungen für Krankentaggelder aus: «In gut der Hälfte aller Fälle konnten wir dank dem Casemanagement die mittlere Dauer der Arbeitsunfähigkeit um eineinhalb bis zwei Monate verkürzen.»
Dies geschehe zum Beispiel dadurch, dass man die Personalabteilungen bei der Suche nach Lösungen unterstütze, die der Weiterbeschäftigung dienen. Oder dass man auf eine Anpassung der Arbeitsbedingungen hinwirke.
Schwangere fühlen sich «schuldig»
Als weitaus schwieriger erweist sich für Stadtmann, die Grundeinstellung der Arbeitgeber zu schwangeren Mitarbeiterinnen zu ändern. «Firmenverantwortliche sollten positiv reagieren, wenn ihnen Angestellte ihre Schwangerschaft ankündigen», betont sie. Bei drei von fünf Arbeitgebern sei dies leider nicht der Fall, schätzt die Casemanagerin.
So ergeht es vielen Schwangeren wie Marlies Rauch*, die im Sommer ihr erstes Kind bekommen hat. Der Arbeitgeber hatte ihr zu Beginn der Schwangerschaft zu verstehen gegeben, er erwarte, dass sie vorarbeite für die Zeit, in der sie später fehlen werde. «Das hat mich unter Druck gesetzt», berichtet die Frau. «Zumal mir gesagt wurde, es sei nicht klar, ob ich meine Stelle nach der Rückkehr behalten kann oder zurückgestuft werde.»
Als Marlies Rauch eineinhalb Monate vor dem erwarteten Geburtstermin zu 50 Prozent krankgeschrieben wurde, musste sie das doppelte Arbeitsvolumen bewältigen. Sie sei ja jeden Tag im Büro, beschied ihr der Arbeitgeber, und solle dann halt weniger Pausen machen. «Natürlich war das nicht okay», erzählt Rauch, «aber ich fühlte mich dennoch schuldig, weil ich als Schwangere weniger geleistet habe.»
In dem Zusammenhang offenbart eine Ärztin, die anonym bleiben möchte: «Ich schreibe Schwangere gar nicht mehr zu 50 Prozent krank. Denn dann verlangen die Arbeitgeber vom Grossteil der Betroffenen, in der verbleibenden Zeit mehr zu arbeiten.»
* Name von der Redaktion geändert.
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