Serie: Unsere Dialekte«Schweizerdeutsch wird überleben»
Was genau macht Schweizerdeutsch aus? Stimmt es, dass sich unsere Dialekte immer ähnlicher werden? Die Linguistin und Dialektspezialistin Helen Christen weiss es.
Frau Christen, fangen wir doch mit den schweizerdeutschen Lauten an. Welche sind für unsere Mundarten typisch?
Unser Gespräch beginnt gleich mit einem Problem.
Warum?
Es gibt keine Lautung, die alle Schweizer Dialekte gemeinsam haben und sie von allen süddeutschen Mundarten oder vom Vorarlbergischen unterscheiden würde. Man sagt zum Beispiel häufig, es sei kennzeichnend für das Schweizerdeutsche, dass in bestimmten Wörtern die mittelhochdeutschen Vokale erhalten geblieben und keine Diphthonge daraus geworden sind: «Huus», «Iis», «Füür».
Und das stimmt nicht?
Doch, aber dasselbe gilt auch für viele süddeutsche Mundarten. Gleichzeitig gibt es Innerschweizer Dialekte, in denen man nicht «Huus», sondern «Huis» sagt.
Was würde es linguistisch bedeuten, wenn Teile von Süddeutschland politisch zur Schweiz gehörten?
Dann nähme man die dortigen Mundarten als Schweizerdeutsch wahr. Spricht jemand aus der Gegend von Lörrach Dialekt, glauben Norddeutsche oft, es sei Schweizerdeutsch. Unsere Mundarten gehören zu den alemannischen Dialekten, genauso wie die Dialekte im Elsass, in Südbaden, in der Bodenseeregion, in Liechtenstein und Vorarlberg. Jeder Dialekt weist bestimmte Merkmale auf, die auch in anderen Mundarten vorkommen können. Was einen spezifischen Dialekt ausmacht, ist nicht die eine typische und unverkennbare Eigenschaft, sondern eine spezifische Kombination mehrerer Merkmale. Der Unterschied zwischen Schweizerdeutsch und alemannischen Dialekten, die jenseits der Grenze gesprochen werden, liegt nicht im Lautlichen oder in der Grammatik, sondern anderswo.
Nämlich?
In der Tatsache, dass in der Schweiz alle Einheimischen im Alltag Dialekt sprechen, unabhängig von Alter, Schulbildung und sozialem Hintergrund. Das ist in Deutschland immer weniger der Fall.
Welche lautlichen Eigenheiten haben alemannische Dialekte sonst noch?
In Wörtern wie «lieb», «guet» oder «müed» weisen sie einen Diphthong auf, der ebenfalls aus dem Mittelhochdeutschen erhalten geblieben ist. Allerdings teilen sie diese Eigenheit mit anderen südlichen Dialekten wie etwa dem Bairischen. Für hochalemannische Dialekte, zu denen ausser dem Baseldeutschen alle Schweizer Mundarten gehören, ist ausserdem die Verschiebung des anlautenden «K» bezeichnend: «Chind» statt Kind, «Chopf», «Chue», «chli», «cho».
Geht das auch auf das Mittelhochdeutsche zurück?
Nein, im Gegenteil: Dieses Merkmal beruht auf einer Weiterentwicklung, die im Norden des deutschen Sprachraumes und in der Hochsprache ausgeblieben ist. «Chind» entspricht also einem neueren Sprachstand. Schweizerdeutsch ist dem Mittelhochdeutschen lautlich oft näher als die Hochsprache, aber nicht immer.
Gibt es weitere lautliche Beispiele?
Zum Beispiel die unterschiedliche Akzentsetzung von Fremdwörtern: «Budget», «aktiv», «Labor» werden im Schweizerdeutschen auf der ersten Silbe betont, im Hochdeutschen auf der zweiten oder wie bei «Gelatine» auf der dritten.
Kommen wir zur Grammatik.
Ein prägnantes grammatikalisches Merkmal ist das fehlende Präteritum. «Wir gingen nach Hause», das geht mundartlich nur im Perfekt, «mir sind hei gange.» Aber die Vorherrschaft des Perfekts gibt es auch in anderen südlichen Dialekten, und es wird sogar im Norden zunehmend gebräuchlich. Eine Deutschschweizer Besonderheit stellen jedoch teils obligatorische Verbverdoppelungen dar: «Är goot go poschte, si chunt cho go luege».
Welche weiteren Beispiele gibt es?
Die Pluralbildung durch Umlaut, «Täg, Hünd, Pünkt». Oder «li» als Diminutiv-Suffix. Beides wird jedoch auch von den Leuten jenseits der Grenze so gesagt. Das Diminutiv wird im etwas weiter entfernten Schwäbischen dann allerdings mit «le» gebildet. Sehr speziell ist auch die syntaktische Konstruktion «schön, bisch daa» statt «schön, dass du da bist».
Sprechen wir noch kurz über den Wortschatz.
Ein grosser Teil des Wortschatzes ist natürlich identisch mit jenem des Hochdeutschen. Dort, wo der Wortschatz Areale bildet, reichen diese häufig über die Landesgrenze hinaus. So ist «Matte» für «Wiese» ein Wort, das nur in der westlichen Schweiz heimisch ist, allerdings auch im Badischen. Oder aber die Areale sind kleiner als die Deutschschweiz, wie etwa jenes für den Ausdruck «Toggeli», der nur im Haslital für den Schmetterling verwendet wird.
Was bedeutet das?
Dass spezifische Mundartwörter, die in der ganzen Deutschschweiz und nur dort verwendet werden, häufig aus dem amtlichen Bereich stammen. «Traktandeliste, äuffne, Besammlig.» Oder aus jenem der Kulinarik, «Voresse», «Apéro» – wenn Sie das in Deutschland verlangen, bekommen Sie einen Apérol. Bei uns «tönt» etwas, das in der Hochsprache «klingt». «Wüsche» für «kehren, fegen» reicht nur bis Basel. «Ringhörig» für «hellhörig» ist ein weiteres Beispiel. Oder «schnuufe» für «atmen» – was allerdings auch in süddeutschen Dialekten gebräuchlich ist.
«Grüezi» ist auch typisch schweizerisch.
Eigentlich schon, bloss braucht man es nicht überall – so konnte im Wallis «Grüezeni» zu einer Scherzbezeichnung für die Nicht-Walliser werden. Und «Putschi-Auto» für «Autoscooter» gibt es sonst nirgends. Weitere Beispiele sind «Hellraumprojektor» und «Bostitch» oder «Heftli» für eine Illustrierte. Exklusiv schweizerdeutsche Wörter treten auch gehäuft in der informellen Alltagssprache auf.
Zum Beispiel?
«Huere» für «sehr». Oder das Wort «Seich». Abwertende Personenbezeichnungen wie «Löli», «Chnuschti», «Sürmel» sind weitere Beispiele. Ausserdem idiomatische Wendungen, die in der Alltagssprache entstehen und sich ausbreiten. «De Föifer und s Weggli», «das schläckt e kei Geiss ewäg».
Es wird behauptet, dass sich die einzelnen Schweizer Dialekte immer mehr angleichen und irgendwann einmal eine Art Einheitsschweizerdeutsch entstehen könnte. Stimmt das?
Alle Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass viele dialektale Eigenheiten mit geringem Geltungsraum zugunsten von grossräumigeren Merkmalen aufgegeben werden. Ein Beispiel dafür wäre ein Innerschweizer, der nicht mehr «Huis», sondern «Huus» sagt. Oder der «Pfiifalter», der dem «Schmetterling» weichen muss. Schaut man aber genauer hin, ergibt sich ein differenzierteres Bild.
Inwiefern?
Die Formen sind meist nicht einfach weg, sondern werden nur noch in bestimmten Gesprächssituationen gebraucht – zum Beispiel, um zu unterstreichen, wo man aufgewachsen ist. Oder um zu zeigen, wie authentisch man ist oder wo man sich zugehörig fühlt. Aufgrund des Kontakts zwischen verschiedenen Dialekten steht also eine Vielfalt zur Verfügung, auf die man selektiv zurückgreifen kann. Am Innerschweizer Stammtisch heisst es vielleicht immer noch «Huis», beim Apéro mit den Zürcher Arbeitskollegen nicht mehr. Oder eine Winterthurerin, die in bestimmten Situationen bewusst «nid» verwendet statt «nöd», um zu unterstreichen: Stadtzürcherin bin ich übrigens nicht!
Was ist im Bezug auf die Unterschiede zwischen Dialekten längerfristig zu erwarten?
Dass sich vielleicht fünf oder sechs grössere Dialektgebiete, sogenannte Regionaldialekte, etablieren. Ein Regionaldialekt im Grossraum Bern, eine Mundart, die in der Nordwestschweiz und im Jura gesprochen wird, ein grossräumiger Zürcher sowie ein Innerschweizer und ein Ostschweizer Regionaldialekt. Und wer weiss, vielleicht noch Bündnerdeutsch und Walliserdeutsch? Solche Prognosen sind jedoch waghalsig, weil sprachliche Veränderungen von verschiedenen Faktoren abhängen, die kaum vorhersagbar sind.
So eine Art Mittelland-Mischmasch-Dialekt gibt es doch heute schon, oder täuscht der Eindruck?
Nein, der Eindruck täuscht nicht. Es gibt dialektometrische Vermessungen, die zeigen, dass die Mundarten des Mittellandes besonders viele ihrer Merkmale mit anderen Mundarten teilen. In der Linguistik spricht man von «zentralen Dialekten» – im Alltag werden sie als etwas farblos, nicht genau identifizierbar, irgendwo zwischendrin wahrgenommen. «Mischmasch» trifft aber insofern nicht ganz zu, als nicht einfach beliebige Merkmale miteinander «gemischt» werden, sondern spezifische Kombinationen vorkommen.
Und was ist mit der angeblichen Annäherung des Schweizerdeutschen an das Hochdeutsche?
Für den Wortschatz trifft das insofern zu, als wir häufig neue gemeindeutsche Wörter übernehmen, die wir dann allenfalls lautlich an die Schweizer Mundart anpassen. Dadurch bleiben Unterschiede zwischen Dialekt und Hochsprache durchaus bestehen, obwohl sich deren Ausmass verringert.
«Wo» als einziges Schweizerdeutsches Relativpronomen ist doch zum Beispiel gefährdet. «Es git Lüüt, die das nüme bruuchet» statt «wo das nüme bruuchet».
Eine meiner Doktorandinnen hat dieses Phänomen untersucht und ist zum Schluss gekommen: «Wo» als Relativpronomen ist im Dialekt noch immer vorherrschend. Das hochdeutsche Pronomen kommt dann ins Spiel, wenn Leute etwas Schriftdeutsch vorformulieren und es dann in die Mundart übertragen.
Wird man auch in 100 Jahren noch Schweizerdeutsch sprechen?
Ich glaube ja. Der Gebrauch der Schweizer Mundart hat sich in jüngster Zeit sogar ein neues Terrain erobert: die informelle Schriftlichkeit. Vor allem, aber längst nicht mehr ausschliesslich junge Leute schreiben in Chats und sozialen Medien häufig Dialekt. Das deutet darauf hin: Schweizerdeutsch wird überleben.
Dieser Text ist erstmals am 22. Dezember 2023 erschienen. Zur Lancierung unseres neuen Dialekt-Tests publizieren wir ihn erneut.
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