Schönheitschirurgen warnenSelfie-Wahn führt zu mehr Beauty-OPs
Smartphone-Kameras sind wie ein Spiegel. Doch Selfies können am Selbstwertgefühl nagen, und das ist nicht nur die Schuld der Nutzer.
Die amerikanische Akademie der Schönheitschirurgen berichtet von einem beängstigenden Trend. Mehr denn je kommen Kunden vorbei und wollen mithilfe einer Schönheitsoperation ihr Image in den sozialen Medien verbessern. Nun will Google die automatischen Filter für die Smartphone-Kameras ausschalten, weil die Selfies dazu führen, dass mehr Menschen mit ihrem eigenen Erscheinungsbild unzufrieden sind.
Jugendliche fühlen sich gemobbt
Laut der Akademie der Schönheitschirurgen wurden 72 Prozent der Ärzte im vergangenen Jahr von Patienten konsultiert, die mit ihrem Selfie haderten und Abhilfe suchten. Dies entspricht einer Zunahme von 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr und fast einer Verdopplung gegenüber 2015. Darüber hinaus gaben 80 Prozent der Eltern an, dass sie sich Sorgen über die Auswirkungen von automatischen Kamerafiltern machen. Zwei Drittel der Jugendlichen klagen, dass sie wegen ihres Aussehens in den sozialen Medien gemobbt wurden.
Paul Nassif, ein für seine Auftritte in TV Reality-Shows bekannter Schönheitschirurg, fasst zusammen: «Es hat ein Umdenken stattgefunden. Mehr Patienten wollen Botox oder Filler, um den Effekt von Kamerafiltern und anderen Foto-Apps nachzuahmen. Am weitesten geht die «Beauty and Filter Camera B612». Mit mehr als 500 Millionen Downloads und über 100 Millionen monatlichen Nutzern ist B612 faktisch zum grössten virtuellen Schönheitschirurg der Welt geworden.
«Unser Leben findet mehr und mehr online statt, und alle verspüren den Druck, gut auszusehen.»
Die Corona-Epidemie habe den Trend zum Retuschieren des Selfies noch verstärkt, sagt Maggie Stanphill, User-Experience-Direktorin bei Google. «Unser Leben findet mehr und mehr online statt, und alle verspüren den Druck, gut auszusehen.» Besonders betroffen seien jüngere Nutzer. «Ihre mentale Verfassung kann durch die Selfie-Kultur beeinträchtigt werden. Zweifel am Aussehen können Ängste und Depression auslösen.»
70 Prozent brauchen Kamera für Selfies
Eine Untersuchung durch Google zeigt, dass Selfies das Verhalten in den Online-Plattformen prägen wie nie zuvor, brauchen doch 70 Prozent der Nutzer von Android-Phones die Kamera für Selfies. Stanphill sagt, sie sei von diesen Resultaten selber überrascht worden. «Fotos sind offensichtlich das neue Medium und entwickeln sich zu einer kulturellen Norm.»
Viele Nutzer wissen nicht, dass die Hersteller von Smartphones und die Entwickler der Software die Kamerafilter automatisch und serienmässig einschalten. Die Filter verwenden Begriffe wie «Schönheit», «Verschönerung», «Verbesserung» und «Ausbesserung», was impliziert, dass etwas mit dem Erscheinungsbild einer Person nicht stimmt und korrigiert werden muss. Es wird ein Schönheitsideal suggeriert, das mit der Realität des nicht retuschierten Gesichts kollidiert.
Lockdown verschärft das Problem
Es sei anzunehmen, dass sich das Problem wegen des Lockdown und der erhöhten Präsenz in den sozialen Medien verschärfe, meinen Psychologen. «Zunächst scheinen die Filter harmlos. Aber ein Verschönern hier und ein Nachbessern da, und schon kann sich eine Obsession mit dem Aussehen entwickeln», sagt Peace Amadi, Psychologieprofessorin an der Hope-International-Universität in Los Angeles. «Die Folgen sind ein geringeres Selbstbewusstsein und Frust mit dem eigenen Aussehen.»
In einem ersten Schritt will Google nun die Kamerafilter in den Android-Geräten ausschalten und ermuntert andere Anbieter zum Mitmachen. Snapchat und Zoom haben das bereits getan.
Filter vergrössern die Augen
Das Phänomen ist ein globales. Google schätzt, dass jeden Tag 93 Millionen Selfies geschossen werden und jedes dritte Foto der 18- bis 24-Jährigen ein Selfie ist. Kamerafilter werden von mehr als einer Milliarde Nutzern von Facebook, Instagram, Messenger, Snapchat und Tiktok eingesetzt. Zur Verfügung stehen Filter wie «Paris», der unreine Haut zum Verschwinden bringt. Andere Filter vergrössern die Augen, begradigen die Nase und machen das Kinn kantiger. Besonders beliebt sind solche Filter in Asien. In Südkorea und Indien greifen Nutzer ohne grössere Vorbehalte zum Retuschieren, während Nutzer in den USA und noch ausgeprägter in Deutschland mehr auf ihr natürliches Aussehen setzen.
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