Napoli ist MeisterSogar den Vesuv wollten sie zur Eruption bringen
Napoli gewinnt nach 1987 und 1990 seinen dritten Titel, es ist der erste nach Maradona. Diese Geschichte kreuzt alle Klischees über die Stadt, selbst den Aberglauben haben die Neapolitaner abgelegt.
Es ist vollbracht. Mit leichtem Verzug, aber immer noch lange vor dem finalen Vorhang. Napoli ist italienischer Meister, fünf Spieltage vor Saisonende der Serie A. Nach einem müden, ausgezehrten 1:1 in Udine, fast tausend Kilometer von zu Hause entfernt. «Napule è mille culuri», sangen sie daheim, im vollen Stadion, 55’000. Es standen da zwölf Grossbildschirme für die Übertragung. «Neapel ist tausend Farben», so heisst ein Lied von Pino Daniele, eine Hymne auf diese Stadt, die immer alles ist, nur nie grau.
Wenn man nach der tiefen kulturellen Revolution forschen wollte, die in diesem erst dritten Titel in der Geschichte des Vereins steckt, die ihn transzendiert, dann landet man schnell beim wunderlichen Umgang mit dem Aberglauben, der «scaramanzia». Frühes Feiern, das wissen schon die Kinder, bringt Unglück. Etwa einen Geburtstag: Nie würden die Neapolitaner einen Tag zu früh Glück wünschen. Der neapolitanische Dichter, Schauspieler und Regisseur Eduardo De Filippo sagte einmal: «Abergläubisch zu sein, ist etwas für Dummköpfe. Es aber nicht zu sein, bringt Unglück.»
Aberglaube ist eine wahnsinnig wichtige Sache in Neapel, ein Bremser des Herzens, das ja gerne schon viel zu früh hüpft. Normalerweise. Diesmal bremste er nicht. Diesmal feierten die Neapolitaner Wochen vor der Vollendung. Klar, der hohe Vorsprung war ja auch eine schöne Garantie. In den Gassen verkauften ambulante Krämer schon billige synthetische Trikots der Lieblinge und Devotionalien von Diego Armando Maradona für eine würdige Meisterfeier, da war erst die halbe Saison um.
An der Via de Deo in den Quartieri Spagnoli schauten in den vergangenen Wochen so viele Menschen beim grossen Murales für den Goldjungen vorbei, den Pibe de oro, dass zuweilen nicht mal mehr die Motorräder vorbeikamen, und die kommen überall durch. Largo Maradona, eigentlich ein Parkplatz, ist zur Pilgerstätte geworden, zum «sacrario». Es gibt noch andere Wandgemälde von Maradona in der Stadt, viel grössere und schönere. Aber das an der Via de Deo bleibt das heilige Original, für immer und ewig. Darunter geht es nicht, Neapel ist immer eine Übertreibung.
Und Freude ist eine dehnbare Regung, sie kann auch platzen. Wenn sich die Neapolitaner freuen, dann muss es laut sein und bunt, Feuerwerk und Böller, Gehupe und Geheul. Jedes alte Jahr geht mit Böllern, jedes neue Jahr kommt mit Raketen. Und immer verletzen sich Menschen im Dutzend, in Neapel stirbt man auch schon mal an Freude, an allzu stark vollgepumpten Feuerwerkskörpern etwa. In der Nacht des Triumphs starb ein 26 Jahre alter Mann, getroffen von Schüssen aus einer Waffe. Schüsse der Freude?
Für die Meisterfeier hatte es Pläne gegeben, den Vesuv zur Eruption zu bringen, sozusagen: mit tausend Nebelkerzen in den drei Landesfarben. Ein bisschen verrückt, vielleicht auch nur eine Provokation. So sperrte die Polizei alle Zugänge zum Vulkan. Die Behörden verboten auch den Verkauf von Feuerwerk, dem offiziellen wenigstens. Aber wer kauft das Zeug schon im Laden?
Der Präsident ist ein Fremder – aber er sollte recht bekommen
Es ist vollbracht, wer hätte das gedacht. Zum ersten Mal nach 22 Jahren ist mal wieder ein Verein italienischer Meister, der nicht aus Mailand oder Turin kommt, aus dem reichen, oftmals auch etwas blasierten Norden des Landes. Zu Beginn der Saison hatte man den Neapolitanern nichts zugetraut. Sie hatten ja ihre Besten verkauft, sogar einen Sohn der Stadt: Lorenzo Insigne. Einfach weg, nach Kanada. Und geholt hatten sie Leute mit unaussprechbaren Namen aus der fussballerischen Provinz: einen jungen Georgier etwa und einen Südkoreaner, der in der Türkei spielte. Man stellte sich darauf ein, dass die lange Durchquerung der Wüste, die nun schon seit 1990 lief, noch etwas fortdauern würde.
Was war man resigniert. Und verärgert über den Präsidenten des Vereins, den römischen Filmproduzenten Aurelio De Laurentiis, der sich, hiess es, ohnehin immer nur für das Business interessiert habe. Herzlos, ohne Sinn für das Feuer, das unter dieser Stadt schlummert, metaphorisch und tatsächlich. De Laurentiis hatte den Verein 2004 gekauft, als der pleite war, abgestürzt in die Serie C. Eigentlich ein Retter vor dem Herrn.
Doch so sah man ihn nie in Neapel, De Laurentiis war ein Fremder: Rom ist eine Welt entfernt, wo die beiden Städte doch so nahe liegen. Eine andere Welt. Wollte er Napoli etwa klein halten, gesund sparen für die Kasse seiner Familie?
Dann kam alles anders, schöner, unterhaltsamer, meisterhaft. Und ADL, wie sie ihn nennen, als wäre das Akronym eine Modemarke, gilt nun als Modell für vernünftiges Wirtschaften. Der Präsident hat die Saläre gekürzt, durchs Band, und er hat die Ticketpreise angehoben. Napoli ist tatsächlich gesund, es wird in diesem Jahr einen Gewinn von wohl etwa 50 Millionen Euro schreiben. Das hat es seit vierzig Jahren nicht mehr gegeben: einen Meister der Serie A, der sich bei seinen meisterlichen Anstrengungen buchhalterisch nicht übernommen hat. Neapel als Beispiel – gemessen an den Klischees liesse sich sagen: ausgerechnet! «Das ist ein unneapolitanischer Meistertitel», schreibt die römische Zeitung «La Repubblica». «Die Folklore sollte uns nicht täuschen, dieser Titel widerspricht allen Gemeinplätzen über die Stadt.» Er ist bodenständig, geduldig und nachhaltig gebaut und darum andersartig revolutionär.
«Lobo», «Kvara», «Osi» – Diminutive für ein grosses Kollektiv
In der Exegese des sportlichen Erfolgs gebührt dem Trainer die prominenteste Erwähnung, unbedingt. Von Luciano Spalletti, Toskaner aus Certaldo, sagt man, er mache «seine Männer» besser. Gemeint sind natürlich die Spieler. Manchmal erfindet er sie neu. Giovanni Di Lorenzo etwa, einen soliden rechten Aussenverteidiger ohne leicht ausmachbares Charisma, machte er zum Captain des Teams und trug ihm auf, auch mal über seinen Flügel zu fliegen, nach innen zu rücken, den Sturm zu verstärken. Gelang erstaunlich oft. Stanislav Lobotka, Mittelfeldspieler mit mittelmässigem Leistungsausweis und sehr tiefem Gravitationszentrum, machte Spalletti zum Regisseur, zum Walter im Zentrum. Er dosierte das Tempo, drehte sich dafür öfters um die eigene Achse. Vielleicht war kein Spieler wichtiger im Kollektiv als dieser Slowake, als «Lobo».
Für die Galerie aber, klar, auch für die europäische Bühne, waren zwei andere Herrschaften noch etwas attraktiver. Da war einmal dieser junge Georgier auf dem linken, dem maradonischen Flügel mit dem komplizierten Namen, den sich die meisten Reporter bis heute sicherheitshalber aus vertrauenswürdiger Quelle in ihre Texte rüberkopieren: Chwitscha Kwarazchelia. Man behalf sich bei einem ausbaubaren Diminutiv: «Kvara» brachte es zuweilen zum «Kvaradona», man schwelgt in Nostalgie.
Brachial attraktiv war auch sein nigerianischer Partner im Sturm, ein Neuner, wie ihn sich jeder Fan in seinem Team wünscht, modern und echt, jedenfalls kein manierierter «falso nueve», sondern einer mit Sinn zur «Direttissima», dem direktesten Weg zum Tor: Victor Osimhen, «Osi», aus Lagos. Seine Gesichtsmaske wurde irgendwann zum Glücksbringer, die Kinder trugen sie, die Konditoren legten sie auf Geburtstagstorten: Sie erinnert die Neapolitaner an Pulcinella, die berühmteste Figur ihres Volkstheaters.
Diego Maradona war ein «Capo popolo», ein Politiker, ein Solist
Wird Napoli seine Galeriespieler halten können? Will De Laurentiis allen Sirenen trotzen, die ihn da ansingen werden – mit Summen so gigantisch, dass sie leidlich auszuschlagen zu sind? In Neapel heisst es nun, man habe da die Basis für einen Zyklus beisammen: einen grandiosen Coach mit später Glorie, eine junge Mannschaft mit beträchtlicher Verbesserungsmarge, eine Stadt mit unversiegbarer Feierlaune. Alles da. Sollte ADL auch die Spielerbank noch etwas polstern, damit nicht immer dieselben spielen müssen, ja, dann hat dieses Napoli das Zeug zum zwischenzeitlichen Hegemonen.
Mit Maradona war das anders gewesen, der trug das Team fast ganz allein. Und den Verein, die Stadt, den Süden. Maradona war ein Politiker, ein bisschen demagogisch in seinem Gestus, messianisch oder göttlich, selbst wenn er sich das nicht bewusst war und auch daran zerbrechen sollte. Ein verletzlicher «Capo popolo», wie die Italiener diese Figuren nennen, die dem Volk entspringen, dessen Reflexe leben, dessen Widersprüche, und dann plötzlich über ihm sitzen, umschwirrt von Verehrern und Parasiten. Che Guevara?
Maradona war die Revanche des Südens über den Norden, den ungeliebten. Er hatte sich für Neapel entschieden, wo sie ihn in Mailand und Turin wohl fürstlicher behandelt hätten, wenigstens finanziell. Ein Statement war das, ein Versprechen. Neapel war Buenos Aires auf Steroiden. Neapel frass ihn auf, wie man eine Liebe mit Haut und Haaren fressen will. Auch die Unterwelt hatte ihren Teil an ihm, musste ja. Aber wer mochte urteilen? Kein Wunder, wurde er nach seinem viel zu frühen Tod endgültig verklärt. Santo subito. Dabei war er gerade das nie: ein Heiliger. Maradona war Neapel, ein originalkonformes Abbild der Bellezza und der Abgründe der Stadt. Schön und traurig, fast unerträglich schön.
Spallettis Mannschaft, die nun die Meisterschaft noch eindrucksvoller beherrschte als das Napoli Maradonas 1987 und 1990, war stark als Ganzes, als Chor. Auch die Glänzer unter den Spielern stellten ihr Licht immer in den Dienst des Teams, ziemlich bescheiden, ziemlich solidarisch. Der Schnauf ging ihnen zum Schluss etwas aus. Aber so schlimm war das nicht, denn die direkte Konkurrenz war so unstet, so wetterfahnig wie vielleicht noch nie: Alle Rivalen hingen mal durch, während Napoli schwebte.
Und so schmeckt dieser dritte Scudetto 33 Jahre nach dem zweiten so gar nicht nach einer trotzigen Revanche über historisches Unrecht, wie es die Neapolitaner gerne bemühen, um ihre Nöte dem Norden anzuhängen – die selbst verschuldeten gleich mit. Auch darum fühlt sich dieser Titel unneapolitanisch an, selbstbewusst und erwachsen. Er kreuzt eben alte Klischees. Es ist vollbracht.
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