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Erstaunliche Show in Mailand
Ein Fussballspiel, so ganz und gar unitalienisch

Schnell, wild, unitalienisch: Das Hinspiel zwischen Milan und Napoli wurde zum Schlagabtausch (im Bild Rafael Leão, rechts, verfolgt von André Zambo Anguissa, Mitte, und Amir Rrahmani).
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Mit Prognosen ist es so eine Sache: Sie sind eine Lotterie, erstochert in der Finsternis des Unwissens. Vor dem italienischen Viertelfinal in der Champions League zwischen der AC Milan und der SSC Napoli hatte es auch von sehr berufener Stelle geheissen, im Hinspiel sei eine taktische Nummer zu erwarten, Schach unter den Coachs, wahrscheinlich eine Art Neutralisierungsschlacht. Schliesslich dauere diese Begegnung 180 Minuten, allermindestens. Und schliesslich sei das Italien, Welthochamt des fussballerischen Kalkulierens. Fabio Capello, der Kommentator gewordene frühere Trainer, redete auch so, um nur einen Prominenten zu nennen. Tifosi anderer Glaubensrichtungen mochten sich schon gefragt haben, ob sich das Einschalten überhaupt lohne.

Nun, es kam alles ganz anders: schneller, wilder. Als hätte jemand im Bauch des Giuseppe Meazza im Mailänder Stadtteil San Siro auf diesen Knopf gedrückt, den man von Abspielgeräten kennt: eineinhalb Mal die normale Geschwindigkeit, doppelte Geschwindigkeit. Napoli schob die grosse Sorge weg, die ihm das Fehlen von Victor Osimhen bereitete, seinem Mittelstürmer, und stürmte auch ohne Neuner einfach los.

Trainer Luciano Spalletti hatte keine Alternative, auch Osimhens Ersatz, der Argentinier Giovanni Simeone, ist verletzt und Giacomo Raspadori noch immer nicht fit. So wandelte er den mazedonischen Mittelfeldspieler Eljif Elmas zu einem falschen Neuner um, wobei: «falso» sollte seine Rolle nur sehr ungebührend spiegeln – er war da vorne sichtlich am falschen Platz. Und doch gelang es den Dominatoren aus der Serie A, Milan einen Schrecken einzujagen, eine halbe Stunde lang. Die Gastgeber hatten ganz offensichtlich die Prognose mit Fabio Capello geteilt.

«Show im San Siro», pushte die «Gazzetta» auf die Handys. Das hatte niemand erwartet.

Aus dem Schachspiel wurde ein sehr untaktischer, sehr unitalienischer Schlagabtausch, einer mit englischen Elementen und spanischen Einschlägen. Die italienischen Zeitungen jedenfalls finden nun, die beiden Mannschaften hätten ein modernes, schnelles Spektakel geboten, eines für die internationale Bühne. Die Serie A hat ihre Zuschauer ja an eine aufreizend gemächliche Gangart gewöhnt, da fällt ein Tempowechsel natürlich sofort auf. «Show im San Siro», pushte die «Gazzetta dello Sport» auf die Handys ihrer Leser.

Die Mailänder also liessen das Spiel lange Zeit über sich ergehen, irritiert und auch ein bisschen überrollt: Das Mittelfeld traten sie ganz an Napoli ab, wo es doch genau umgekehrt geplant gewesen war. Mit Osimhen, so viel Diagnose sei gewagt, hätten die Neapolitaner eine ihrer vielen Chancen in der ersten Halbzeit genutzt – mit dessen «grinta» vor dem Tor, wie die Italiener den Biss nennen, diesen unbedingten Drang eines richtigen Neuners.

Schon wieder steht bei Milan die Null

Doch dann passierte, was diesen Sport ausmacht: Brahim Díaz, Leihgabe von Real Madrid, entwand sich mit einer Zaubernummer, die die «Gazzetta» an Houdini erinnerte, gleich dreier Spieler von Napoli, querte den Platz, bediente Ismaël Bennacer, und der traf zum Siegtor. Völlig gegen den Spielverlauf. Aber was heisst das schon?

1:0. Ist das gut? Ist das genug? Stefano Pioli, Milans Trainer, sagte nach dem Spiel: «Kein Ergebnis hätte das Weiterkommen bereits besiegelt.» Nun, so absolut lässt sich das vielleicht nicht sagen. Aber immerhin: Sein Team hat wieder zu null gespielt, zum fünften Mal in den letzten fünf Spielen in der Champions League, was diesmal ungefähr zu hundert Prozent der Leistung des französischen Goalies Mike Maignan zuzuschreiben war: Der parierte auch Bälle, die man selbst in Zeitlupe noch ins Tor segeln sah. Einen von Giovanni Di Lorenzo kurz vor Schluss, da war Napoli nur noch zu zehnt auf dem Platz, und das war höchstens halb nachvollziehbar.

Immer wieder er: Milans Torhüter Mike Maignan verhinderte mehrmals ein Gegentor.

Den dürftigsten Beitrag zur «Show im San Siro» leistete nämlich der Schiedsrichter aus Rumänien, Istvan Kovacs. In der Anfangsphase ahndete er gar nichts, auch den mittleren Vandalismus von Rafael Leão gegen die Eckfahne nicht: Sie zerbarst unter dem Fusstritt des Portugiesen, der damit seinen Frust nach einer vergebenen Torchance zu kompensieren suchte. Müsste Gelb sein, ist immer Gelb.

In der zweiten Halbzeit dann verteilte Kovacs Karten ohne Mass, vor allem gegen Napoli. So sah der Kameruner André Zambo Anguissa, ein Balancespieler im zentralen Mittelfeld, zweimal Gelb und flog vom Rasen. Eine Verwarnung für Proteste gab es dann auch noch für den südkoreanischen Abwehrchef Kim Min-jae, der vorbelastet in die Begegnung gegangen war und im Rückspiel fehlen wird. Und vielleicht ist dieser doppelte Ausfall nun die grössere Hypothek auf das Rückspiel als das 0:1. Spalletti muss die zentrale Achse neu komponieren, und so lang ist seine Ersatzbank ja nicht.

Werden die Kurven im Stadio Maradona diesmal warm?

Doch das scheint nicht einmal seine grösste Sorge zu sein, die sieht er auf den Rängen, in den eigenen Kurven. Neulich, als Napoli in der Meisterschaft daheim im Stadio Maradona 0:4 gegen Milan verlor, gab es in der Curva B surreale Szenen. Manche Ultras hoben zu Schmähchören gegen den Präsidenten ihres Vereins an, gegen den römischen Filmproduzenten Aurelio De Laurentiis. Der ist zwar nicht unwesentlich dafür verantwortlich, dass sich Napoli nach seinem Absturz in den Nullerjahren wieder zur respektablen Hausnummer im europäischen Fussball entwickelt hat. Doch die harten Fans mögen ihn nicht leiden, sie werfen ihm auch eine prohibitive Preispolitik vor. So war das Stadion kalt, man hörte fast nur die Milanisti. Das passt schlecht in die euphorische Stimmung, die das wunderbar leicht euphorisierbare Neapel erfasst hat.

Spalletti sagte nun nach dem Spiel in Mailand: «Wenn das Stadion diesmal nicht warm ist, dann gehe ich nach Hause.» Es könne nicht sein, dass die Mannschaft in Geiselhaft genommen werde, sie sei nun mal ein sensibles Ensemble. Mit etwas «grinta» seines wahren Neuners, mit Osimhen eben, der dann wohl wieder dabei sein wird, könnten die Herzen aber sehr schnell sehr warm werden.