Napoli – Milan in der Champions LeagueItalien möchte diesen Moment einfrieren und ins Museum stellen
Milan gegen Napoli im Viertelfinal der Königsklasse – wer hätte das zu Beginn der Saison für möglich gehalten? Und nun dies: Der Favorit aus dem Süden ist gar nicht mehr so favorisiert.
In diesem Frühling der kleinen fussballerischen Mirakel gewinnt man zuweilen den Eindruck, die Italiener wären schon mit ihrer Teilnehmerquote in der Champions League zufrieden. Als könnte man für sie das Tableau der letzten acht einfach so einfrieren, wie ein Stillleben, und den Wettbewerb an dieser Stelle abbrechen. Fürs Museum.
Drei Vereine der Serie A sind also noch dabei im Viertelfinal der Königsklasse, wo man sich doch schon lange und mit dunkler Lust am eigenen Niedergang delektiert hatte – abgehängt von der englischen Premier League, von der spanischen Liga, ja sogar von der deutschen Bundesliga. Okay, der französischen Ligue 1 fühlen sich die Italiener überlegen, wenigstens im Gestus. Aber zählt das? Drei von acht! Tre su otto! Napoli, Inter, Milan.
Und so ergab es sich, dass zwei von dreien sogar einen Platz im Halbfinal untereinander ausmachen, die AC Milan und die SSC Napoli, eine Qualifikationsgarantie besteht also schon mal. Würde man den Film um ein paar Wochen zurückdrehen, hätte alle Welt auf Napoli gewettet, Überflieger der Saison mit schier unheimlich konstanter Schwebehöhe.
Umkehr der geopolitischen Gewissheiten
In der Meisterschaft liegen die Neapolitaner 16 Punkte vor Lazio Rom und 21 vor der AS Roma. Dahinter erst kommen die Mailänder Vereine. Juventus kommt noch später, was natürlich am Abzug von fünfzehn Punkten liegt, die sich die Turiner wegen des dringenden Verdachts auf sehr unlautere Geschäftsführung eingehandelt haben. Die Zeitungen schreiben von einer Umkehr alter geofussballerischer und -politischer Gewissheiten: Das Zentrum und der Süden des Landes regieren mal über den Norden. Das kommt selten genug vor: eigentlich nie, auf keinem Gebiet. Und auch diesmal ist das Phänomen wohl wieder flüchtig, einer dieser kometenhaften Momente mit Schweif am Himmel. Aber immerhin.
Der Schweif, der gehört Napoli, gefeiert daheim und in Europa für seinen symphonisch schönen und schnellen Fussball. Nur zuletzt leuchtete der Schweif etwas weniger hell.
Das hat nicht unwesentlich mit dem Gegner in diesem ersten italienischen Derby in der Champions League seit 2005 zu tun. Milan hat Napoli vor zehn Tagen beim 4:0 im Stadio Maradona dermassen dominiert, in allen Belangen, technisch und taktisch, dass nun fast alle Cheferklärer des Calcio die Chancen beider Teams bei fünfzig-fünfzig sehen. Manche neigen gar zu einem Chancenplus für Milan, zumal Victor Osimhen fehlen wird, der nigerianische Neuner von Napoli: 25 Tore hat er in der laufenden Saison erzielt.
Der junge Mann mit der Maske, im Duo mit dem Georgier Khvicha Kvaratskhelia so etwas wie die Sturm-und-Drang-Werdung des Jahres, laboriert an einer Verletzung an der Leiste. Nichts ganz Schlimmes. Aber man will seine Gesundheit nicht riskieren. Kann Napoli auch ohne ihn? Osimhen fehlte schon im famosen Zäsurspiel gegen Milan, so verlor das Spiel Napolis seine überbordende Intensität. Mehr noch: Ohne seinen Matador ermattete es, es fiel auseinander.
Mr. Nice Guy im Calcio hat eine kurze Bank und zuweilen einen genialen Gedanken.
Nun wäre es natürlich unfair, die Meriten Milans und ihres Trainers Stefano Pioli an dieser völlig unverhofften Abrechnung zu schmälern. Der Mr. Nice Guy unter den italienischen Trainern, beliebt bei allen, gibt sich selbst immer dem Understatement hin, obschon er den Verein im vergangenen Jahr zur Meisterschaft geführt hatte. In dieser Saison aber ist sein junges Milan so unstet und oft schwach gegen die Schwachen, dass die Metapher der Achterbahn so oft bemüht wurde wie wohl selten zuvor.
Es mangelt der Stammelf dramatisch an valablen Ersatzspielern, oder wie man in solchen Fällen gerne sagt: Milan hat eine kurze Bank. Fällt mal einer der Formatspieler aus, der portugiesische Flügel Rafael Leão etwa, oder der französische Aussenverteidiger Theo Hernández, der ebenfalls französische Torhüter Mike Maignan, der genauso französische Mittelstürmer Olivier Giroud, oder der Italiener Sandro Tonali, für manche «der neue Andrea Pirlo» – ja dann schrumpft der Meister zur Mediokrität. Die Investitionen am Markt erwiesen sich als Flops, vorab die beiden Belgier Divock Origi und Charles De Ketelaere. Und Zlatan Ibrahimovic, Milans Spiritus und ewiger Masseur des Selbstvertrauens, spürt sein Alter, wie kann es anders sein. Er ist 41.
Gegen Napoli aber hatte Trainer Pioli seine Besten zur Verfügung, und er hatte einen Einfall, der ihm nun als mittlere Genialität ausgelegt wird: Er setzte seinen algerischen Mittelfeldspieler Ismaël Bennacer auf Napolis slowakischen Regisseur Stanislav Lobotka an, Metronom und Schaltzentrale der Neapolitaner – und zwar hoch, mit konstantem Pressing. «Lobo» kam kaum zum Atmen.
Und da neben Leão, der bei seinen Flügelflügen selbst in traurigen Momenten ein Lächeln auf dem Gesicht trägt, auch der Kreativspieler Brahim Díaz auf der rechten Angriffsseite einen richtig guten Tag erwischt hatte, war Milan plötzlich wieder da, wie verwandelt, stark gegen einen starken Gegner. Leão und Díaz sind Freunde mit eigenem Torjubel. Wenn einer von beiden trifft, geben sie sich die Hand und verneigen sich voreinander.
Psychologisches Hoch oder Vorwarnung zur rechten Zeit?
Es gibt jetzt zwei Denkschulen. Eine lehrt, Napoli sei gewarnt – so lasse sich sein Trainer Luciano Spalletti nicht mehr vorführen, ganz bestimmt nicht. Die andere sieht Milan psychologisch im Vorteil, beflügelt vom Momentum. Der Teufel, der rotschwarze «Diavolo», in der Rolle des Drachentöters. Wenigstens aber des Drachenkitzlers. Milan hat es geschafft, Napoli unter die Haut zu gehen.
Für die Mailänder ist diese Champions League auch aus einem historischen Grund eine ganz besondere. Vor achtzehn Jahren, am 25. Mai 2005, fand der Final des Wettbewerbs wie diesmal in Istanbul statt. Und Milan war dabei, zumindest eine Halbzeit lang, die erste – es sollte eine der memorabelsten Begegnungen in diesem Sport werden. Man spielte gegen den FC Liverpool, zur Pause stand es 3:0 für Milan. Eine Aufführung, als hätten sie die Scala in Atatürks Olympiastadion getragen. Allein das Mittelfeld: Pirlo, Seedorf, Gattuso. Und der Sturm: Kakà hinter Schewtschenko und Crespo. Und die Abwehr erst: Maldini, Nesta, Stam, Cafu. Im Tor: Dida.
Doch dann kam alles anders, sechs Minuten Hölle, von der 54. bis zur 60. Die Reds glichen aus, aus dem vermeintlichen Nichts, und gewannen dann das Elfmeterschiessen. Unvergesslich, unvergessen. Und nun eröffnet sich tatsächlich die Möglichkeit, dass Milan die Schmach von Istanbul – denn so wird sie empfunden – auswetzen kann. Trotz geschrumpften Etats, trotz kurzer Bank. Aus eigener Kraft sozusagen, sollte die ausreichen. Im selben Stadion.
Ach, was für ein Frühling. Die «Gazzetta dello Sport» hob am vergangenen Wochenende die drei Trainer der italienischen Viertelfinalisten aufs Cover, alles Italiener, auch der zuletzt eher unglückliche Simone Inzaghi von Inter Mailand. Und stellte ihnen noch Carlo Ancelotti zur Seite, den Coach von Real Madrid, mit dem Pokal im Arm. «Carletto» kommt ja aus Reggiolo in der Emilia, er hat ihn schon viermal gewonnen.
Vier von acht Trainern im Viertelfinal sind also Italiener. Europa lerne mal wieder von den italienischen Maestri, so schrie es vom Deckblatt der «Gazzetta». Einfrieren, fürs Museum.
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