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Schneekristall-Fotograf Wilson Bentley
Wie ein Milchbauer vor über 100 Jahren 5000 Schnee­flocken fotografierte

In Geschichtsbüchern galt Bentley lange als die weltweit erste Person, die erfolgreich einen Schneekristall im Detail fotografiert hat.
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Manche Leidenschaften machen einsam. Wer sich stundenlang im Zimmer einsperrt und weltvergessen herumexperimentiert, wer trockene Fachbücher liest und sich etwas zu sehr für nerdige Details interessiert – für Do-it-yourself-Roboter-Bausätze, für die Evolution der Gelbbauchunke, für fermentierte Lebensmittel – der mag sich schwertun, Menschen zu begegnen, mit denen es «klickt».

Wilson Alwyn Bentley konnte davon wohl ein Lied singen. Seine Leidenschaft waren Schneeflocken. Schon als Jugendlicher verbrachte der spätere Milchbauer aus Vermont im Winter jede freie Minute in einer zugigen Scheune und betrachtete Schnee unter dem Mikroskop. Er war überzeugt: Jede Flocke, die vom Himmel fällt, ist einzigartig. Deshalb entwickelte er eine Technik, mit der er ihre vergängliche Schönheit auf Fotos einfrieren konnte.

In Geschichtsbüchern galt Bentley lange als die weltweit erste Person, die erfolgreich einen Schneekristall im Detail fotografiert hat, am 15. Januar 1885, also vor bald 139 Jahren. Mittlerweile schreiben Historikerinnen und Historiker diese Pioniertat zwar Johann Heinrich Ludwig Flögel zu, einem Naturwissenschaftler aus Schleswig-Holstein. Er soll bereits sechs Jahre vor Bentley die erste Detailaufnahme eines Schneekristalls gemacht haben. Doch niemand hat Schneeflocken je so ausdauernd fotografiert wie der Landwirt aus der neuenglischen Pampa.

Als er 1931 starb, hinterliess der kleine Mann mit dem buschigen Schnauzbart der Welt mehr als 5000 Makrofotografien von Schneekristallen. So ist Bentley für seine Fans bis heute der einzig wahre «Snowflake Man». Jedes seiner Bilder zeigt ein Unikat – und auch sonst sind wohl noch nie zwei vollkommen identische Schneeflocken vom Himmel gefallen.

Aus physikalischer Sicht müssen drei Dinge zusammenkommen, damit es schneit: Feuchtigkeit, Kälte und Nukleationskeime. Letztere dienen – häufig in der Form von Staubteilchen – als Gefrierkerne, um die herum sich sechseckige Strukturen bilden. «Aber Schnee ist nicht einfach gefrorenes Wasser,» sagt Henning Löwe, Physiker der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in Davos. «Schnee ist aus Wasserdampf gewachsenes Eis.» Genau genommen entsteht Schnee aus übersättigtem Wasserdampf, also Wasserdampf, der für seine Temperatur eigentlich zu viele Wassermoleküle enthält. Zu Hause kann man ihn beobachten, wenn man den Gefrierschrank aufreisst und der weissen Wolke zusieht, die herausströmt.

In Wolken am Himmel entsteht Schnee, wenn sich übersättigter Wasserdampf zum Beispiel an einem Staubteilchen ablagert und erstarrt. Das passiert nur, wenn es in den Wolken kalt genug ist. «Minus zehn Grad Celsius braucht es schon», sagt die Meteorologin Gudrun Mühlbacher. Denn in der Natur kommt reines Wasser kaum vor. Oft sind darin Salze gelöst, die den Gefrierpunkt des Wassers herabsetzen.

Die genaue Struktur eines Schneekristalls variiert mit seinen Umgebungsbedingungen. Physiker und Meteorologinnen unterscheiden grob zwischen Plättchen, Nadeln, Säulen und Dendriten, also sternförmigen, verästelten Strukturen. Die einzelnen Kristalle kollidieren in ihren Wolken und auf dem Weg zur Erdoberfläche mit anderen Kristallen und verketten sich. So entstehen die grossen, fluffigen Flocken, die den Schneeflockenmann Wilson Bentley ein Leben lang faszinierten.

Er kam am 9. Februar 1865 auf die Welt, als Sohn eines Milchbauern und einer ehemaligen Lehrerin. Sein ganzes Leben sollte er auf dem elterlichen Hof verbringen, am Stadtrand von Jericho, rund 70 km südlich der kanadischen Grenze. Die Winter in der Kleinstadt sind lang; von September bis Dezember scheint die Sonne dort so wenig wie an kaum einem anderen Ort in den USA. Die Durchschnittstemperatur liegt etwa zwei Grad unter dem langjährigen Mittel des Bundesstaats Vermont. Zu Bentleys Lebzeiten schneite es meist ab November – und manchmal dauerte es bis Mai, bis auch die letzte Schneewolke abgezogen war. Gute Ausgangsbedingungen also für seine Schneeflockenfotografie.

Biografen beschreiben Bentley gern als einen gutherzigen, zurückgezogenen Nerd. Geheiratet hat er nie. Als Erwachsener bewohnte er einen Teil des elterlichen Bauernhofs. Seine Leidenschaft für Schneeflocken blieb den Menschen in seiner Heimatstadt ein Rätsel. Selbst Vater und Bruder sollen oft nur mit dem Kopf geschüttelt haben, wenn sich Bentley mal wieder stundenlang freiwillig in die Kälte stellte, um Schneeflocken zu beobachten. Einzig die Mutter unterstützte die Neugier ihres Sohnes von klein auf: Als er 15 Jahre alt war, gab sie ihm ein Mikroskop, das sie noch aus ihren Zeiten als Lehrerin besass.

Von da an konnte sich Bentley die weissen Zauberflocken genauer ansehen als je zuvor. So zart, so symmetrisch, so schön waren die Strukturen, die das Mikroskop offenbarte. Bentley versuchte, ihre vergängliche Schönheit mit Stift und Papier festzuhalten. Er wollte sie anderen Menschen zeigen, damit sie endlich verstanden, wieso er sich so für Schnee interessierte. Doch immer, wenn er den Stift beiseitelegte, war er enttäuscht: wieder nur ein ungenauer Abklatsch der Perfektion, die er durch die Linsen seines Mikroskops zu betrachten meinte.

Irgendwie überredete der Jugendliche seine Eltern, ihm eine Fotokamera mit ausziehbarem Balgen zu kaufen. Die einzige, die er jemals besitzen würde. Für seine Familie war das eine grosse Investition, denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Kameras noch eine junge Technologie. Winzige Eiskristalle zu fotografieren, kaum grösser als die Flügel einer Fruchtfliege und so fragil, dass sie schon schmelzen, nur weil man einmal falsch ausatmet, das war eine grosse Herausforderung – und es gab niemanden in Bentleys Umfeld, der es ihm hätte beibringen können.

So musste der Jugendliche selbst mit Kamera, Mikroskop und Fotoplatten experimentieren, geduldig und kreativ. Er lernte, wie er den Fotoapparat in seiner Scheune positionieren musste, damit genügend Licht durch die Linse fiel. Er entwickelte ein System aus Schnüren und Holzrädchen, mit dem er das Bild unter dem Mikroskop scharf stellen konnte, während er hinter dem armlangen Balg seiner Kamera stand. Und er übte, vorsichtig und gleichzeitig schnell zu arbeiten, sodass die Kristalle nicht mittendrin schmelzen.

Am 15. Januar 1885, nach knapp zwei Jahren des Herumfriemelns, war es endlich so weit: Der 19-jährige Bentley balancierte einen Schneekristall mit einem Holzspan auf eine Glasplatte, legte sie unter das Mikroskop und stellte das Bild scharf. Er öffnete die Blende seiner Kamera, so weit es ging, belichtete 100 Sekunden lang – und klick, es funktionierte. Bentley hatte sein erstes gelungenes Flockenfoto aufgenommen. Später bezeichnete er den Moment als den glücklichsten seines Lebens.

Anfangs war Bentleys Foto-Ausbeute noch gering, doch über die Jahre hinweg perfektionierte er seine Technik. Um neue Motive vor die Linse zu bekommen, stand er bei Schneefall oft stundenlang in der Kälte. Die Hände in dicken Handschuhen, einen Schal um die Ohren, einen Knoten unterm Kinn. Geduldig wartete er, bis der richtige Schneekristall auf sein mit schwarzem Samt überzogenes Holztablett herunterschneite. Er begutachtete die Flocken mit einer Lupe und wischte uninteressante Kristalle mit einer Feder weg.

Tatsächlich schafften es nur wenige in Bentleys Endauswahl. Seine Ansprüche an Form und Symmetrie waren hoch. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein geometrisch perfekter Schneekristall auf der Erde ankommt, gering.

Von den Schneeforscherinnen und Meteorologen seiner Zeit wurde Bentley vor allem eins: ignoriert.

«Schnee liegt auf der Erde meist bei Temperaturen zwischen null und minus 40 Grad Celsius,» erklärt der Physiker Henning Löwe. «Somit ist er, physikalisch gesehen, immer kurz vorm Schmelzen.» Löwe vergleicht Schnee gern mit Stahl bei 1000 Grad Celsius, also unter Extrembedingungen, kurz vorm Glühen. «So muss man sich auch eine Wolke oder Schneedecke vorstellen: als Glühofen für Schneekristalle.»

Da die Temperatur von Schnee auf der Erde stets so nah am Schmelzpunkt liegt, hat er auch einen hohen Dampfdruck. Das führt dazu, dass an einem Schneekristall ständig Wasserdampf vom Eis wegströmt – in der Fachsprache: sublimiert, also unmittelbar vom festen in den gasförmigen Aggregatszustand übergeht – und sich an einer etwas kälteren Stelle in der Schneedecke wieder als Eis anlagert.

Dieser Umwandlungsprozess, die sogenannte Schneemetamorphose, läuft umso schneller ab, je höher die Temperatur und je grösser die Temperaturunterschiede im Porenraum einer Eisstruktur sind. Doch selbst in der Antarktis, bei minus 40 Grad Celsius, steht Schnee nie völlig still. «Mit der Zeit bauen sich die ursprünglichen Kristallstrukturen komplett um», sagt Henning Löwe. Dadurch entstehen in terrestrischen Schneedecken Formen, die so nie in einer Schneewolke vorkommen würden, zum Beispiel kelchförmige Becherkristalle.

Schon Wilson Bentley vermutete, dass die Struktur eines Schneekristalls etwas über seine Entstehungsgeschichte verrät. Damit war er dem wissenschaftlichen Zeitgeist weit voraus. Jahrzehnte vergingen, bis der Physiker Ukichirō Nakaya von 1930 an solche Zusammenhänge systematisch untersuchte. Der Japaner entwickelte schliesslich ein Diagramm, das die Struktur von Schneekristallen in Abhängigkeit von Temperatur und Luftfeuchtigkeit beschreibt und bis heute verwendet wird.

Von den Schneeforscherinnen und Meteorologen seiner Zeit wurde Bentley vor allem eins: ignoriert. Er war halt doch nur Milchbauer, ohne Netzwerke in akademische Kreise. Auch die Leute in seiner Heimatstadt verspotteten Bentley eher, als dass sie sich für seine Arbeit interessierten. Als er einmal einen Vortragsabend für sie organisierte, erschienen gerade einmal sechs Personen. Doch Bentley liess sich nicht entmutigen. Zum Glück.

Denn 1897 – ganze zwölf Jahre nach dem ersten Flocken-Foto – traf er George Henry Perkins. Der Professor für Naturkunde kaufte ein paar seiner Aufnahmen und ermutigte ihn, Artikel in Magazinen und meteorologischen Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Bentley wurde immer bekannter, es folgten Beiträge in National Geographic und dem New York Times Magazine. Sein Lebenswerk krönte er schliesslich mit einem Buch: «Snow Crystals» präsentiert rund 2500 seiner Flockenfotos und wird bis heute verkauft. Die erste Auflage erschien im November 1931.

Rund einen Monat später, genau einen Tag vor Heiligabend, starb Bentley im Alter von 66 Jahren. Er hatte sich bei einem Schneesturm eine Lungenentzündung zugezogen, nun holte der Tod den Schneeflockenmann. Der Legende nach schneite es bei seiner Beerdigung in Jericho.

Hierzulande schneit es rund um Heiligabend nur selten. «Weihnachtstauwetter» nennt die Meteorologin Gudrun Mühlbacher das milde, oft regnerische Schmuddelwetter, das hier üblicherweise vor Weihnachten auftritt. Auch Schnee an den Weihnachtsfeiertagen selbst wird immer seltener. (Lesen Sie hier unseren interaktiven Artikel: «Weisse Weihnachten» – wann hatten wir das zum letzten Mal?)

Tatsächlich ist das so eine Sache mit dem Schnee und der Statistik. Im Winter schwanken die Temperaturen von Jahr zur Jahr stark – schon immer und deutlich mehr als über die Sommermonate. Niederschläge unterliegen ebenfalls grossen natürlichen Schwankungen, und der Klimawandel verkompliziert die Sache weiter.

Obwohl es in den kommenden Jahren unterm Strich immer wärmer werden wird, wird es immer noch Monate mit viel Schnee geben, sogar ganze Winter. Denn durch den Klimawandel werden Wetterlagen träger. Das heisst: Haben sich Schneewolken erst einmal festgesetzt, lösen sie sich langsamer auf. «Es kann gut sein, dass wir in Zukunft noch Rekordschneehöhen messen», sagt Gudrun Mühlbacher. «Trotz – oder gerade wegen – des Klimawandels.» Das sind dann aber Extremwetterereignisse.

Unterm Strich werden schneereiche Phasen seltener. Vor allem in tieferen Lagen. Das bestätigten Klimatologinnen und Meteorologen im Fachblatt The Cryosphere, nachdem sie Schneedaten von mehr als 2000 Messstationen der vergangenen 50 Jahre ausgewertet hatten. Der Trend war fast im gesamten Alpenraum gleich: Acht von zehn Messstationen registrierten im Winter (Dezember bis Februar) schrumpfende Schneemengen. Im Frühling (März bis Mai) waren es sogar neun von zehn.

An der Sammelstudie war auch Christoph Marty von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in Davos beteiligt. Der Klimaforscher sagt: «Schnee wird immer seltener dorthin durchdringen, wo die meisten Menschen leben: unterhalb von 1000 Metern.» Denn für Schnee wird es im Flachland an den meisten Tagen zu warm sein. Stattdessen wird es mehr regnen.

Nicht nur die Perioden mit einer geschlossenen Schneedecke werden immer seltener. Auch die Winter selbst werden immer kürzer. Vor allem im Frühjahr macht sich die Klimaerwärmung schon deutlich bemerkbar: «Der Schnee schmilzt am Ende des Winters einfach früher weg», sagt Christoph Marty.

Gut also, dass Wilson Bentley tausende Schneekristalle auf seinen Fotos für die Ewigkeit eingefroren hat. So können sie noch viele Menschen erfreuen, selbst wenn ihnen der schwitzende, weisse Zauberstoff im Alltag kaum mehr begegnet.

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