Abstimmung am 3. MärzSeeufer für alle – Neuenburg zeigt Zürich, wie es geht
Muss das Ufer überall zugänglich sein? Am Neuenburgersee haben sich Regierung und Parlament in Minne geeinigt. Bei der Umsetzung sind Widerstände nicht auszuschliessen.
Der Sand strahlt weiss, das Wasser leuchtet bei Sonnenschein in herrlichen Türkistönen. Die «Plage des Pins» bei Yvonand am Neuenburgersee zählt zu den schönsten Badeorten der Schweiz. Pittoresk ist auch der leicht abfallende Sandstrand in der Nachbargemeinde Cheseaux-Noréaz mit seinen kleinen Buchten. Abgesehen von ihrer Schönheit haben die Strände vor allem eines gemeinsam: Sie sind öffentlich zugänglich.
Doch längst nicht auf allen Uferwegen des Lac de Neuchâtel kann man spazieren. Auf Neuenburger Boden ist ein Viertel des 34 Kilometer langen Seeufers nach wie vor nicht begehbar. Das soll sich ändern, beschloss der Neuenburger Grosse Rat Anfang 2021.
Die Grünen haben diesen Entscheid mit ihrer Volksinitiative «Seeufer für alle» angestossen. Die Regierung hatte ihrerseits in den Jahren zuvor bereits einen Gestaltungsplan ausgearbeitet, mit dem Ziel, möglichst alle Uferzonen passierbar zu machen. Bereits 2025 sollte es eigentlich so weit sein. Darauf angesprochen, signalisiert der verantwortliche Staatsrat Laurent Favre (FDP), man arbeite rasch und gut, man werde aber das Ziel wohl verfehlen, auch weil einzelne Fälle womöglich vor Gerichten landen.
Scharfe Töne
Worauf Neuenburg also in breitem Konsens und mit grosser Geschwindigkeit hinarbeitet, das steht auch in Zürich zur Debatte. Am 3. März stimmen die Zürcherinnen und Zürcher über die Initiative «Für öffentliche Uferwege mit ökologischer Aufwertung» ab. Unterstützt wird das Begehren von den Grünen sowie von SP, GLP, AL und verschiedenen Vereinen und Verbänden. In Zürich sind die Zwischentöne aber derzeit ungleich schärfer und die Konfrontationen heftiger. (Mehr dazu: Sie wären direkt betroffen von einem Ja zur Uferinitiative)
Die Initianten fordern den Abriss von Ufermauern und ein Ende hart verbauter Ufer zugunsten «von durchgehenden öffentlichen Uferwegen». Sie stellen sich vor, dass künftig «die Uferwege an Seen und Flüssen in der Regel am Land und möglichst nah am Ufer zu führen sind». Der durchgehende Uferweg soll bis 2050 erstellt sein.
Die Initiativgegner argumentieren wiederum, das linke Vorhaben bringe Tiere und Natur zu Schaden. Wichtige Lebensräume von Tieren und Pflanzen würden zerstört und Littering würde den See verschmutzen. Und die Umsetzung der Initiative koste erst noch mindestens eine halbe Milliarde Franken. Ein Grossteil würde auf Landkäufe und Entschädigungszahlungen entfallen. Im Gegenkomitee engagieren sich die Mitte, FDP, SVP, Jungfreisinnige, die Junge SVP, Interessenverbände und Organisationen.
Versprechen und hohe Kosten
Es zeigt sich weit über Zürich hinaus: Seeuferzugänge sind in der Schweiz zu politischen Kampfzonen geworden. Prominent ist das Beispiel der St. Galler Seegemeinde Rorschacherberg. Nach jahrzehntelangen Streitereien samt Abstimmungen rund um ein wenige Hundert Meter langes, von Privaten verbautes Stück Bodenseeufer lässt die Gemeinde einen Gehweg bauen. Kostenpunkt: 4,5 Millionen Franken. Die Kosten sind mitunter darum so hoch, weil das Projekt ohne einen Steg über dem Bodenseeufer nicht realisierbar ist.
Auch am Genfersee kämpfen Bürgerinnen und Bürger für durchgehende Seewege. In der Waadtländer Gemeinde La Tour-de-Peilz wurde die Erschliessung eines 600 Meter langen Wegs immer wieder versprochen, an der Urne befürwortet, von der Gemeinde vorangetrieben – doch bis heute nicht realisiert. Gerichte entschieden zugunsten klagender Hausbesitzer und gegen die Mehrheit der Stimmberechtigten.
Schwierige Umsetzung
Auch in Zürich schien bereits alles geregelt. 2013 versprachen Regierungs- und Kantonsrat, jährlich 6 Millionen Franken für den Bau von Uferwegen bereitzustellen, doch das budgetierte Geld wurde nie ausgegeben, und so wurden in den letzten zehn Jahren gerade mal 180 Wegmeter gebaut. Was auf dem Papier einfach tönt, ist in der Umsetzung offenbar ziemlich schwierig.
Darum schauen die Zürcher Initianten immer wieder mal in die Westschweiz und im Speziellen nach Neuenburg. Was dort gelang, soll sich in Zürich fortsetzen, so das Kalkül.
Natürlich habe auch sie mitbekommen, worüber die Zürcherinnen und Zürcher abstimmen, bestätigt Clarence Chollet, die für die Neuenburger Grünen im Kantonsrat sitzt und dem Initiativkomitee «Seeufer für alle» angehörte. «Neuenburg und Zürich lassen sich allerdings nur bedingt miteinander vergleichen», stellt sie klar. Es scheine nämlich so, als würde Zürich vom absoluten Nullpunkt aus starten.
In Neuenburg sei das anders gewesen, weil sein Seeufer nicht derart verbaut ist wie am Zürichsee. Über drei Viertel der noch nicht erschlossenen Zonen gehören dem Kanton oder den Gemeinden. In Zürich ist ein erheblich kleinerer Teil in öffentlicher Hand. Ein Gutachten geht für Zürich davon aus, dass über 200 Privatparzellen vom Bau eines neuen Uferwegs betroffen wären. Stege und bauliche Eingriffe wären wohl nötig, was hingegen in Neuenburg kaum der Fall ist. Neuenburg hat zudem seit langem ein kantonales Gesetz, das den Bürgern überall einen Seezugang garantiert. Das Recht besteht zumindest in der Theorie. «Droit de marchepied», wörtlich «Recht auf Trittbrettfahren», nennt man es in Neuenburg. Das Problem bis heute ist: Das Gesetz wird nicht zur Gänze durchgesetzt.
Regierungsrat Laurent Favre beschreibt eine weitere Neuenburger Eigenheit. Dass es in seinem Kanton kaum bauliche Eingriffe braucht, liege auch daran, dass bereits im 19. Jahrhundert der Pegel des Neuenburgersees durch die Fluss- und Gewässerkorrektur am Jurasüdfuss um etwa zwei Meter sank. Dadurch sei Fläche frei geworden, die als Seeuferweg diene. «Der Weg ist also nicht neu. Er ist bei der Bevölkerung seit Generationen für Spaziergänge äusserst beliebt», sagt er.
Breiter Konsens
Dass es in Neuenburg so rasch vorwärtsging und -geht, hat auch mit einem breiten politischen Konsens zu tun. «Nur ein Jahr, nachdem wir unsere Initiative eingereicht hatten, präsentierte der Staatsrat bereits einen Gestaltungsplan für das Seeufer, auf dem sämtliche Wege eingezeichnet waren», erinnert sich Clarence Chollet. Die Regierung zeigte damit, dass sie auf die Initiative der Grünen vorbereitet war. «Den Gestaltungsplan hatten wir 2012 begonnen und 2017 fertiggestellt. Trotzdem war die Regierung klar der Meinung, dass die Initiative zu weit ging», erinnert sich Staatsrat Favre. So hätte die Forderung der Initianten nach einem Fussweg von mindestens zwei Metern Breite der Natur sehr geschadet.
Die Regierung beantragte dem Parlament darum, die Initiative der Grünen abzulehnen, und lancierte einen Gegenvorschlag, mit dem die Grünen einverstanden waren. Damit die Regierung ihren Gestaltungsplan umsetzen konnte, sprach das Parlament umgehend einen Kredit von 2,4 Millionen Franken.
Die Initianten schrieben 2019 in einem Communiqué, sie hofften, «dass das Neuenburger Projekt andere Gemeinden inspirieren und einen besseren Zugang zum Seeufer im ganzen Land fördern wird». Diese Botschaft kam auch in Zürich an.
«Unsere Initiative bleibt ein Erfolg, auch wenn der Kanton nun vielleicht nicht so rasch vorwärtskommt wie erhofft», sagt Clarence Chollet. Rasch ging die Umsetzung auf öffentlichem Grund, etwa beim Seebad in Neuenburg und im Fall einer psychiatrischen Klinik. Sie haben ihre Uferwege bereits freigegeben, das Seebad aber mit der Einschränkung, dass der Weg während der Badesaison geschlossen bleibt. Die Klinik wiederum hat auf ihrem Grundstück Tafeln aufgestellt, die Passanten zu einem respektvollen gegenseitigen Umgang auffordern.
«Schwieriger ist die Situation auf etwa 1,5 Kilometern Uferweg, wo Privathäuser direkt am See stehen», sagt Laurent Favre. «Hier müssen wir Fall für Fall klären und gute Kompromisse suchen», sagt er. In diesem Sinn und Geist müssen wohl mitunter abschliessbare Tore entfernt, Wachhunde an die Leine gelegt, Schutzbäume gestutzt und Buschwerk gerodet werden. Nur dort, wo ein Weg aufgrund der Topografie unmöglich ist, für viel Geld eine Passerelle gebaut werden müsste oder durch ein Naturschutzgebiet führen würde, wird man von der Uferzone abweichen. Damit sind auch die Grünen einverstanden. Enteignungen sind bislang kein Thema. Der Kanton versucht alles im Konsens und möglichst ohne Rechtsstreitigkeiten zu regeln.
In Zürich ist man von allem noch weit entfernt, selbst wenn die Initiative am 3. März angenommen würde. Dort, wo der Uferweg problemlos gebaut werden kann, ist er schon heute weitgehend erstellt. Wo er noch fehlt, sind hingegen erhebliche Widerstände zu erwarten.
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