Polizeigewalt in LausanneSechs Polizisten müssen auf die Anklagebank
Bei einem Einsatz gegen Drogenhändler in der Waadt starb 2018 ein 40-jähriger Mann aus Nigeria. Ab Montag stehen sechs Beamte wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht.
Dieser Strafprozess ist brisant. So brisant, dass schon heute klar ist: Wie auch immer das Gericht entscheidet, der Entscheid wird zu reden geben.
Es geht um den Tod des nigerianischen Staatsbürgers Mike Ben Peter, der in der Nacht vom 28. Februar bei einer Polizeiaktion mitten im Lausanner Stadtzentrum ums Leben kam. Sechs Polizisten entschieden, Mike Ben Peter wegen des Verdachts auf Drogenhandel in Bahnhofsnähe zu «neutralisieren». Sie drückten den 40-jährigen Nigerianer bäuchlings auf den Boden, worauf er einen Herzstillstand erlitt. Trotz Reanimation starb er in derselben Nacht im Universitätsspital.
Parallelen zum Fall George Floyd
Als am 25. Mai 2020 der Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis (USA) bei einem gewaltsamen Polizeieinsatz ums Leben kam, wurden sofort Parallelen zum Tod von Mike Ben Peter gezogen. In Lausanne wurden wiederholt Protestkundgebungen gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt organisiert, die letzte vor wenigen Tagen.
Während sich im Fall George Floyd die Polizisten längst vor Gericht verantworten mussten und Urteile gesprochen wurden, brauchte die Waadtländer Staatsanwaltschaft fünf Jahre für die Strafuntersuchung und die Anklageerhebung. Die beim Bezirksgericht Lausanne eingereichte Anklage lautet auf fahrlässige Tötung. Sechs Stadtpolizisten sitzen auf der Anklagebank.
Pfefferspray ins Gesicht, Schläge in die Rippen
In der Anklageschrift sind die Geschehnisse in der Nacht vom 28. Februar bruchstückhaft zusammengefasst. Gemäss der Staatsanwaltschaft sah ein Polizist, wie Mike Ben Peter sich an einem Plastiksack zu schaffen machte, und verlangte, er solle ihm den Sack aushändigen. Doch der Nigerianer warf den Sack weg und begann sich zur Wehr zu setzen. Daraufhin forderte der Polizist Verstärkung an, schlug ihn in den Schritt und sprühte ihm Pfefferspray ins Gesicht.
Sechs Polizisten drückten den Nigerianer am Ende zuerst seitlich und dann bäuchlings auf die Strasse. Weil er trotzdem aufzustehen versuchte, schlug ihm ein Polizist mit seinem Knie in die Rippen. Auch ein Schlagstock kam zum Einsatz, um Mike Ben Peter schliesslich Handschellen anlegen zu können.
«Die Beschuldigten wussten aufgrund ihrer Ausbildung und wurden selbst während ihres Einsatzes daran erinnert, dass die Bauchlage lebensgefährlich ist.»
Doch plötzlich bemerkten die Polizisten, dass der Mann bewusstlos war, und drehten ihn vom Bauch wieder auf den Rücken. Im Mund fanden sie Kokainkügelchen. Sie begannen ihn zu reanimieren und forderten eine Ambulanz an. Die Todesursache führen Gerichtsmediziner auf multiples Organversagen infolge des Herzstillstands zurück. Zudem hätten mehrere Faktoren wie Übergewicht, Herzrhythmusstörungen und Stress eine Rolle gespielt.
Natürlich habe sich Mike Ben Peter bei der Kontrolle physisch zur Wehr gesetzt, schreibt die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift, stellt aber auch fest, «dass die Beschuldigten aufgrund ihrer Ausbildung gewusst hatten und selbst während des Einsatzes daran erinnert wurden, dass die Bauchlage lebensgefährlich ist».
Kritik an medizinischen Gutachten
Mike Ben Peters Familie, seine Ehefrau und seine Kinder, treten im Strafprozess als Zivilkläger auf. Anwalt Simon Ntah vertritt sie. Er ist mit der Strafuntersuchung und der Anklage unzufrieden und kritisiert vor allem die beiden medizinischen Gutachten, die die Staatsanwaltschaft eingeholt hat. Der bekannte Genfer Anwalt sagt: «Wir forderten, dass die medizinischen Gutachter Erfahrung mit Todesfällen infolge von Polizeigewalt und insbesondere dem lagebedingten Erstickungstod haben, doch dies wurde uns verweigert.» In der Schweiz gebe es «keine solche Experten», so Ntah, weil «ähnliche Fälle hierzulande glücklicherweise selten sind». Es gäbe sie jedoch in Deutschland.
«Eine fünf Jahre dauernde Strafuntersuchung ist im vorliegenden Fall ungerechtfertigt.»
Doch deutsche Experten wollte die Waadtländer Staatsanwaltschaft offenbar nicht beiziehen. Stattdessen hätten sich die Schweizer Experten an US-amerikanischen Expertisen orientiert und seien zum Schluss gekommen, dass es keinen medizinischen Konsens gibt, dass die Bauchlage zum Tod führen kann, so Ntah. Auch wegen der Auswahl der Experten ist er der Auffassung, dass das Strafverfahren nicht gemäss den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention durchgeführt wurde.
«Eine fünf Jahre dauernde Strafuntersuchung ist im vorliegenden Fall ungerechtfertigt, zudem wären weitere rechtsmedizinische Untersuchungen zwingend gewesen, die die Staatsanwaltschaft nicht gemacht hat», kritisiert der Anwalt. Das Bezirksgericht habe nun jedoch die Möglichkeit, die «Verletzung der Grundrechte» festzustellen.
Simon Ntah wird vor Gericht auch versuchen, Zugang zu den Ergebnissen einer polizeiinternen Disziplinaruntersuchung gegen die sechs Polizisten zu bekommen. Diesen Zugang hat ihm die Staatsanwaltschaft verwehrt. Man wolle nicht, dass die Zivilkläger im Strafverfahren eine «fishing expedition» starten, also eine sogenannte Beweisausforschung betreiben, argumentiert sie in der Anklageschrift.
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