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Tod von Tyre Nichols
Polizei von Memphis löst gefürchtete Sondereinheit auf

Viele Protestierende bewerteten Nichols’ Tötung als Ausdruck von systemischem Rassismus: Demonstrantin in Memphis, Tennessee.
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Die Verzweiflung der Mutter von Tyre Nichols hat viele Menschen in den Vereinigten Staaten besonders betroffen gemacht. Mehrfach hatte der 29-Jährige «Mom» geschrien, als ihn fünf Polizisten derart misshandelten, dass er drei Tage später im Spital starb. Ihr Sohn habe in Not nach ihr gerufen und sie habe ihm nicht helfen können, sagte RaVaughn Wells jetzt, da die Polizei von Memphis vier Videoaufnahmen der Gewalttat veröffentlichte.

Die Aufzeichnungen von Überwachungs- und Körperkameras der Polizisten zeugen von verstörender Brutalität. Obwohl die Ausschnitte, die am Freitagabend Ortszeit publik gemacht wurden, nicht alle Details und Zusammenhänge zeigen, wird das Schockierendste der Gewalttat vom 7. Januar deutlich: Nach einer Verkehrskontrolle traktierten Polizisten Nichols drei Minuten lang mit Tritten und Schlägen gegen den Kopf, mit Pfefferspray und Polizeistöcken.

Erste Hilfe leisteten sie dem schwer Verletzten nicht, auch zwei herbeigerufene Rettungssanitäter liessen eine Viertelstunde verstreichen, bevor sie ihn versorgten. Erst nach mehr als zwanzig Minuten war eine Ambulanz zur Stelle, die den Afroamerikaner ins Krankenhaus brachte, wo er drei Tage später starb, laut einer Autopsie an starken Blutungen.

Die veröffentlichten Aufzeichnungen von Überwachungs- und Körperkameras der Polizisten zeugen von verstörender Brutalität.

Die Behörden von Memphis haben auf den Tod von Nichols nun einigermassen schnell reagiert. Mehrmals traf Polizeichefin Cerelyn Davis seine Angehörigen, und am Samstag kommunizierte sie die Auflösung der Sondereinheit Scorpion, der die fünf Polizisten angehört hatten, eine zentrale Forderung der Familie.

Zwei weitere Polizisten, die am Rande beteiligt waren, wurden ebenfalls suspendiert, und die Feuerwehr von Memphis hat eine Untersuchung zum Verhalten ihrer Rettungssanitäter eingeleitet. Schon zuvor waren die fünf direkt beteiligten Beamten zuerst vom Dienst suspendiert, darauf entlassen und schliesslich am vergangenen Donnerstag verhaftet und des Totschlags, des Kidnappings und weiterer Verbrechen angeklagt worden. Sie alle waren Afroamerikaner wie Nichols.

Demonstrationen gegen systemischen Rassismus

Nichols’ Mutter rief bei einer Medienkonferenz und in Interviews dazu auf, die Gewalt zu beenden. Das bezog sie nicht nur auf die Polizeiarbeit, sondern ebenso auf die Proteste, die seit Wochen schon in Memphis stattfinden und sich am Freitag auf zahlreiche Städte im ganzen Land ausdehnten. «Ich will nicht, dass wir unsere Städte anzünden und unsere Strassen aufreissen, weil das nicht meinem Sohn entsprochen hätte», sagte RaVaughn Wells.

Sprach sich gegen gewaltsame Proteste aus: RaVaughn Wells an einer Medienkonferenz in Memphis. 

Sie bezog sich damit auf das Szenario, für das Behörden Vorbereitungen treffen – jenes von Demonstrationen, wie sie nach der Ermordung von George Floyd im Jahr 2020 monatelang die USA erschüttert hatten. Jene «Black Lives Matter»-Proteste sind vielen Amerikanern nicht nur als Bürgerrechtsproteste in Erinnerung geblieben, sondern auch als gewaltsame Ausschreitungen, die von Plünderungen und Brandschatzung begleitet waren.

Bei der ersten Protestwelle am Freitagabend wurde Wells Wunsch erfüllt: Die Demonstrationen von Los Angeles bis New York City blieben grösstenteils friedlich. In Memphis blockierten Demonstranten eine Autobahnbrücke, es kursierten Berichte über vereinzelte Plünderungen, in New York City legten Demonstranten den zentralen Times Square lahm, in Atlanta rief der Gouverneur den Ausnahmezustand aus und mobilisierte die Nationalgarde.

Demonstration auf dem Times Square in New York am Samstag.

Grossflächige Gewalt jedoch blieb fürs Erste aus. Für das Wochenende waren weitere Demonstrationen in mehreren Städten angesagt. Videobilder zeigten Grüppchen von einigen Hundert Demonstranten, die sich einem Grossaufgebot von Ordnungskräften gegenübersahen.

Viele Protestierende bewerteten Nichols’ Tötung als Ausdruck von systemischem Rassismus: Die Hautfarbe der beteiligten Beamten spiele in dieser Lesart keine Rolle, weil die ganze Polizeiarbeit übermässig auf Dunkelhäutige abziele. Noch heute sei die Polizei eine Sklavenpatrouille, skandierte eine Protestierende in New York.

Eine lange Geschichte der Polizeibrutalität

Die Beziehung zwischen Polizei und Bevölkerung ist in den USA oft schwierig, selbst wenn alle derselben ethnischen Gruppe angehören. Memphis zeigt das geradezu exemplarisch. Zwei Drittel der Einwohner sind Afroamerikaner, eine Mehrheit des Polizeikorps ebenso, inklusive Polizeichefin.

Die lange Geschichte der Polizeibrutalität in der Stadt lässt sich indes nicht auf die Schnelle aus der Welt schaffen. 1968 hatte dort ein weisser Polizist einen 16-jährigen Afroamerikaner erschossen. Zu den darauf folgenden Demonstrationen reiste der Bürgerrechtler Martin Luther King an; am 4. April 1968 wurde er in Memphis auf dem Balkon seines Motelzimmers erschossen. Der Komplex wurde später zu einem rege besuchten Bürgerrechtsmuseum umgebaut.

Memphis hat eine lange und schwierige Geschichte der Polizeigewalt: Demonstration nach dem Tod von Tyre Nichols.

Die Polizeigewalt sollte dennoch jahrzehntelang andauern. Jüngst erschoss 2015 ein Polizist einen 19-jährigen Afroamerikaner, worauf «Black Lives Matter»-Demonstranten durch die Stadt zogen. Erst nach der Ermordung von George Floyd schien die Polizei dann endlich mit Reformen zu reagieren, für die sie Lob erhielt. Umstrittene Polizeitaktiken wurden verboten, etwa Hausdurchsuchungen ohne anzuklopfen oder Würgegriffe. Die Beamten wurden verpflichtet, deeskalierend zu handeln und nur im äussersten Notfall und nicht ohne Vorwarnung zu schiessen. Die Polizei von Memphis verschwand vorübergehend aus den Schlagzeilen.

Die gefürchtete Sondereinheit 

Nach der Zunahme von Gewaltdelikten in der Covid-Pandemie wurde indes 2021 die Sondereinheit Scorpion gegründet, ein Akronym für «Street Crimes Operation to Restore Peace in Our Neighborhoods», eine Truppe «zur Wiederherstellung des Friedens in unseren Quartieren», ausgerechnet. Die rund 40 Skorpione waren meist mit zivilen Autos unterwegs und führten spontane Verkehrskontrollen durch, bei denen sie zahlreiche Waffen beschlagnahmten – aber offensichtlich auch lernten, besonders brutal vorzugehen; in Memphis waren sie gefürchtet.

Für Tyre Nichols endete die Begegnung mit den Skorpionen tödlich. Und viele Amerikaner fragen sich geschockt, welche Reformen denn noch nötig sind, um der unverhältnismässigen Polizeigewalt endlich Einhalt zu gebieten.