Martin Schuler aus WädenswilDer Schwinger lag im Koma, jetzt kämpft er am Kantonalen um einen Kranz
Landwirt Martin Schuler schwingt am Zürcher Kantonalen in Horgen vor seiner Haustür. Für ihn ist das ein besonderes Glück. Denn die Ärzte machten ihm nach seinem Unfall wenig Hoffnung.
Als Martin Schuler am Niklaus-Schwinget in seine Schwingerhose steigt, geht es nicht um den perfekten Schwung, nicht um den Rang, nicht um Beifall. Es geht an diesem 2. Dezember 2023 einzig darum, dass er überhaupt wieder im Sägemehl steht.
Ein halbes Jahr später sitzt der 27-Jährige in der Brauerei seiner Heimatstadt Wädenswil, in der Hand hält er ein grosses Bierglas, randvoll mit Eistee. Er nimmt einen Schluck, lächelt und sagt dann: «Mit mir hat kaum jemand mehr gerechnet.»
Denn da gibt es diesen Tag, an dem er in einem Spital in Österreich aufwacht, mit einer Wunde am Kopf und ohne Erinnerungen.
Martin Schuler versichert, dass es ihm nichts ausmacht, darüber zu sprechen, was Ende 2022 passiert ist. Einzig den fatalen Unfall selbst, den auch er nur aus den Erzählungen der anderen kennt, möchte er nicht mehr im Detail schildern. Ferien, eine Böschung ohne Geländer, ein Sturz. Manchmal braucht es nur einen kleinen, unachtsamen Moment, um ein ganzes Leben durchzuschütteln.
Diagnose Schädelhirntrauma
Neun Tage liegt Martin Schuler im Koma. Die Diagnose lautet Schädelhirntrauma. Damit sei er eigentlich noch glimpflich davongekommen, meint der Schwinger. Gut möglich, dass ihn seine robuste Muskulatur vor weiteren Verletzungen bewahrte. Die ersten Wochen nach dem Unglück sind schwierig. Schuler tippt sich an die Stirn: «Hier drin war alles durcheinander.» Der junge Mann, der kurz vor seinem zweiten Lehrabschluss steht, muss im Zeitraffer noch einmal erwachsen werden. Seine damalige Freundin begleitet ihn dabei. «Nach der Verlegung ins Zürcher Unispital war sie meine grösste Stütze», sagt er. «Dafür bin ich ihr sehr dankbar.»
Martin Schuler lehnt sich zurück, schweigt. Er nimmt sich an diesem Abend die Zeit, von der er auch hätte sagen können, dass er sie im Moment nicht hat. Im letzten Sommer hat er den Hof von seinem Vater im Wädenswilerberg übernommen, daneben arbeitet er weiterhin Teilzeit als Plattenleger. Und aktuell ist da auch noch das Zürcher Kantonal-Schwingfest, das am Sonntag in Horgen, sozusagen vor seiner Haustür, stattfinden wird.
Als technischer Leiter des Schwingklubs Zürichsee linkes Ufer ist Martin Schuler gleich in dreifacher Hinsicht involviert. Er hilft bei den Aufbauarbeiten, betreut die zwölf Aktiven, die am Kantonalen auf der Teilnehmerliste stehen, und muss sich selber auf seinen Einsatz vorbereiten. Schuler spricht von einem Spagat, den er aber gern mache für die Kollegen. «Ich schätze die Kameradschaft im Klub. Und dass ich selbst wieder daran teilhaben kann.»
Büffeln statt Reha
Im Januar 2023 wird Martin Schuler aus dem Universitätsspital in Zürich entlassen. Die Ärzte können ihm zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, ob er jemals wieder Vollzeit arbeiten, geschweige denn schwingen kann. Als es ihm besser geht, recherchiert er im Internet, liest seine Krankenakte und stellt fest: «Die Chance, wieder ganz gesund zu werden, liegt im einstelligen Prozentbereich.»
Anfänglich ist von einer langen Reha die Rede. Martin Schuler ist sichtlich zufrieden damit, wie aus mehreren Monaten schliesslich drei Wochen werden. Er hat intensive Ergo- und Physiotherapie, Glück – und einen unbändigen Willen. Denn die Zeit drängt. Die Lehrabschlussprüfung zum Landwirt steht bevor, der Vater ist kurz vor der Pensionierung. «Es war abgemacht, dass ich im Sommer den Hof übernehme», erklärt er. «Da konnte ich doch nicht einfach wochenlang weg sein.» Wieder zu Hause, zwingt er sich durch den Prüfungsstoff und macht fünf Monate nach dem Unfall wie geplant seinen Abschluss.
Die Rückkehr ins Sägemehl geht Martin Schuler derweil gemächlicher an. Erst in der aktuellen Saison steigt er richtig ein. Und die Feste im Mai zeigen ihm, «wie nahe ich wieder dran bin». Am Morgarten-Schwinget reicht es zum ausgezeichneten vierten Rang, am Thurgauer Kantonalen verpasst er den Kranzgewinn nur knapp, obwohl sein Los kein leichtes war.
Die drei Kränze aus der Vergangenheit machen dem Wädenswiler den Wiedereinstieg nicht leicht. Denn an ihnen wird er vom Einteilungsgericht weiterhin gemessen. Die Regel heisst: Kranzer trifft auf Kranzer. Da bleiben die Richter konsequent. Unter Kollegen hat Martin Schuler darum auch schon gewitzelt, dass es nicht schlecht wäre, würden die Kränze verjähren.
Sein Eichenlaub hat der kräftige Standschwinger im Jahr 2021 eingesammelt. Es ist sein Jahr. Nach starken Resultaten am Glarner-Bündner und am Zürcher Kantonalen holt er auch am Nordostschweizerischen Schwingfest (NOS) in Mels einen Kranz. Es ist sein bislang grösster Triumph und kommt für ihn so unerwartet, dass er sich für die obligate Ehrung der Besten mit dem Mutz eines Kollegen behelfen muss. Seinen eigenen hat er am Morgen zu Hause gelassen. «Ich war überzeugt, dass ich ihn sowieso nicht brauche», erinnert sich Schuler. Er konnte in dieser Zeit wegen der Schule nicht viel trainieren und wurde noch dazu erstmals als Kranzer eingeteilt.
«Mein Vorteil war wohl meine Unbeschwertheit.» Diesen Satz sagt er im Gespräch nicht nur einmal.
Bester Plattenleger des Landes
Denn als Martin Schuler im Alter von 20 Jahren Schweizer Meister im Plattenlegen wird, ist er darauf ähnlich unvorbereitet wie auf den Kranz am NOS. Und ebenso unbekümmert in seinem Auftritt: «Ich habe mich von meinen Berufsschullehrern überreden lassen und bin mit meinem Werkzeugkistli einfach mal hingegangen.» Er merkt schnell, dass die Konkurrenz besser ausgerüstet ist und im Gegensatz zu ihm einen Plan hat. Trotzdem ist keiner präziser, handwerklich geschickter und schneller als er. Schuler gewinnt die nationale Ausscheidung überlegen und darf 2017 die Schweizer Plattenleger an den Berufsweltmeisterschaften in Abu Dhabi vertreten. Er wird Fünfter von 26 Teilnehmenden. «Schlecht gelaufen», lautet sein Kommentar.
Zurück in der Schweiz kommt Martin Schuler kurz ins Grübeln. Er ist auf dem Hof seiner Eltern «zwischen Kühen glücklich aufgewachsen». Für ihn war immer klar, dass hier auch seine berufliche Zukunft liegt. Doch nach den Erfolgen als Handwerker sagen nicht wenige zu ihm: «Du bist so gut in dem, was du tust. Jetzt kannst du doch nicht mehr Bauer werden.» Er braucht eine Weile, um zu erkennen, dass es für ihn keine sinnvollere Aufgabe gibt als die eines Grundversorgers. Zur Hälfte scherzend, zur anderen ernst, sagt er: «Essen müssen alle. Aber aufs WC können die Leute auch, ohne dass ich ihnen den Raum plättle.»
Die Pflichten auf dem Milchwirtschaftsbetrieb mit seinen 20 Kühen und 15 Hektaren Land haben Martin Schuler vorsichtiger werden lassen als früher. Verletzungen kann er sich als Selbstständiger kaum leisten. Deswegen mit dem Schwingen aufzuhören, steht allerdings nicht zur Diskussion. Für ihn ist klar: «Solange ich meinen Vater als Versicherung habe, mache ich weiter.» Er nehme es jetzt einfach «vorzue» – und am Sonntag am Kantonalen natürlich nur zu gern einen Kranz mit. Das Eidgenössische 2022 hat er wegen einer Knieverletzung verpasst. Klappt es 2025 in Glarus mit einer Teilnahme, würde sich ein Bubentraum erfüllen.
Am Unterland-Schwinget hat kürzlich einer zu ihm gemeint: «Du bist so unglaublich ruhig.» Martin Schuler hört das immer wieder und ist stets aufs Neue erstaunt, wie gelassen er anscheinend wirkt, während es in ihm drin brodelt. Und nie, versichert er, war das innere Feuer so gross wie an diesem kalten Dezembertag, als er am Niklaus-Schwinget endlich wieder in die Schwingerhose stieg.
Fehler gefunden?Jetzt melden.