Interview mit Swiss-Life-Chefökonom«Konsumenten können wieder mehr Geld ausgeben»
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Europa seien bald überstanden, sagt Marc Brütsch. Dazu trägt auch die Geldpolitik der Notenbanken bei.
Herr Brütsch, die Wirtschaftsprognosen für 2024 sind mässig. Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Halb voll. Nach einem milden Abschwung gibt es besonders in Europa jetzt wieder Rückenwind: einerseits durch die in Aussicht gestellten Zinssenkungen und andererseits durch das Reallohnwachstum. Konsumenten können wieder mehr Geld ausgeben.
In welchen Ländern?
In Grossbritannien steigen die Löhne schon heute stärker als die Inflation. In Deutschland und Frankreich wird fürs kommende Jahr ein bedeutender Lohnzuwachs erwartet.
Und in der Schweiz?
Hier kommt dieser Aufholeffekt etwas weniger zum Tragen. 2023 hatten wir bei den Löhnen eine Nullrunde, und auch fürs kommende Jahr zeichnet sich nur ein leichtes Plus ab.
Wäre es nicht auch hier Zeit für einen deutlichen Zuwachs? Die Lohneinbussen aus dem Jahr 2022 sind noch nicht kompensiert.
Unter dem Strich konnten die Löhne in den letzten Jahren nicht mit der Teuerung mithalten. Von daher gäbe es schon einen gewissen Aufholbedarf. Offenbar konnten die Gewerkschaften diese Lücke in den Lohnverhandlungen bisher nicht schliessen. Kollektive Lohnverhandlungen betreffen aber bloss einen Teil der Arbeitsverhältnisse. Viele Personen haben unabhängig davon den Job gewechselt und konnten dabei ihr Gehalt steigern. Was den Bedarf nach Reallohnsteigerungen auch abfedert, ist der starke Franken. Importprodukte werden billiger.
Trotzdem haben viele Menschen den Eindruck, sie seien ärmer geworden.
Dazu trägt die Teuerung der vergangenen Jahre sicher bei – einschliesslich der Krankenkassenprämien, die nicht in die gemessene Inflation einfliessen, aber trotzdem die Kaufkraft schmälern. Ich würde erwarten, dass sich dieses Gefühl im Lauf der kommenden ein bis zwei Jahre wieder legt – insbesondere dann, wenn sich bestätigt, dass es im Zug des aktuellen Abschwungs nicht zu Arbeitslosigkeit im grösseren Stil kommt. Ungefähr ab Mitte Jahr dürfte es dann mit der Konjunktur auch wieder aufwärtsgehen.
2024 veranschlagen Sie für die Schweiz ein Wachstum von 1 Prozent. Das entspricht einem Nullwachstum, wenn man die Zuwanderung herausrechnet. Ist das Glas wirklich halb voll?
Für mich zählt vor allem der Zukunftsausblick. Bald dürfte die konjunkturelle Talsohle durchschritten sein. Notenbanken werden mit grosser Wahrscheinlichkeit in diesem Jahr die Leitzinsen senken. So können sich Industrieunternehmen bereits heute günstiger refinanzieren. Und auch die Bautätigkeit dürfte deshalb wieder Fahrt aufnehmen.
Derzeit ist die Geldpolitik aber noch restriktiv. Unterschätzen Sie nicht die Bremswirkung, die dies mit Verzögerung über die kommenden ein bis drei Jahre entfalten wird?
Meiner Einschätzung nach hat die Bremswirkung durch die Geldpolitik in Europa bereits eingesetzt. Banken haben die steigenden Zinsen sehr rasch auf Firmen überwälzt. In den USA ist das etwas anders. Hier kommen die Zinserhöhungen erst nach und nach bei den Unternehmen an. Das könnte die Konjunktur, die bisher erstaunlich robust war, noch empfindlich treffen.
Wie stark stehen die Notenbanken unter Druck, die Zinsen zu senken?
Gemessen an den Erwartungen an den Finanzmärkten: ziemlich stark. Dort geht man zurzeit davon aus, dass die Leitzinsen in den USA und in der Eurozone im Verlauf des kommenden Jahres um jeweils rund 1,5 Prozentpunkte fallen werden. Bald müssen die Notenbanken Klarheit darüber schaffen, ob diese Einschätzungen realistisch sind.
Noch vor wenigen Wochen schloss die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, eine Diskussion über Zinssenkungen aber kategorisch aus.
Nichtsdestotrotz erwarten wir, dass die Europäische Zentralbank angesichts des raschen Inflationsrückgangs bereits im April ein erstes Mal die Zinsen senkt. Natürlich käme das einer Kehrtwende gleich – und man müsste es als Eingeständnis sehen, dass die Währungshüter in Frankfurt die Inflation überschätzt haben. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass man im Rückblick sagen wird: Es war ein Fehler, im September 2023 noch einmal die Zinsen zu erhöhen.
Wann wird die Schweizerische Nationalbank die Leitzinsen senken?
Wir rechnen mit einer Zinssenkung von 0,25 Prozentpunkten im September und mit einer weiteren Zinssenkung von 0,25 Prozentpunkten im Dezember 2024.
Könnte der starke Franken diesen Fahrplan beschleunigen?
Ende November lag der Euro-Franken-Kurs bei 97 Rappen, heute liegt er bei 93 Rappen. Der Franken ist im Vergleich zum Euro also bereits deutlich teurer geworden, und auch zum Dollar hat er zugelegt. Der Hauptgrund dafür ist die Zinswende, die sich in Europa und in den USA anbahnt. Sie macht den Euro und den Dollar als Anlagewährung im Vergleich zum Franken weniger attraktiv. Dieser Effekt ist nun aber eingepreist. Wir sehen wenig unmittelbaren Anlass dafür, dass der Franken noch stärker wird.
Und wenn das doch passiert?
Dann dürfte die Nationalbank primär mit Interventionen am Devisenmarkt darauf reagieren. Das heisst, die Nationalbank kauft Fremdwährungen, um den Franken zu schwächen.
Die Industrie klagt bereits jetzt über den starken Franken.
Sie hat aber auch schon mehrfach erfolgreich bewiesen, dass sie mit dem starken Franken umzugehen weiss. Aufwertungsschübe gibt es seit den 1970er-Jahren regelmässig. Die Industrie hat sich grösstenteils darauf eingestellt. Viele Exportfirmen sind sehr spezialisiert und in Nischenmärkten tätig. Aus ihrer Sicht ist der Frankenkurs nicht so wichtig. Entscheidender ist die weltweite Konjunktur.
Gibt es eine Schmerzgrenze beim Frankenkurs?
Wahrscheinlich wird man bei 90 Rappen pro Euro sagen: Hier geht es nicht mehr.
Hat die Nationalbank in den letzten Jahren insgesamt einen guten Job gemacht?
Ja. Ich würde dem Nationalbankpräsidenten Thomas Jordan ein Kränzchen winden dafür, dass er im September nicht nochmals die Zinsen erhöht hat. Das ist ein Zeichen der Eigenständigkeit.
Trotzdem kann die Nationalbank keine Ausschüttungen vornehmen.
Ja, aber das ist auch nicht das Ziel der Geldpolitik.
Wo kommen die Zinsen langfristig zu liegen?
Wir setzen den neutralen Leitzins bei 1,25 Prozent an. Auf diesem Niveau wird die Wirtschaft weder stimuliert noch gebremst. Es ist der Mittelwert über den Konjunkturzyklus hinweg.
Ist die Ära der Nullzinsen also vorbei?
Von der Eurokrise bis zur Pandemie waren die Leitzinsen auf null oder sogar darunter. Ein wichtiger Grund dafür war, dass auch die Inflation sehr niedrig war: in der Gegend von null. Für die Zukunft rechnen wir mit durchschnittlichen Inflationsraten um 1 Prozent. Aus diesem Grund sollten auch die Zinsen im Schnitt etwa 1 Prozent höher liegen als vor der Pandemie. Man kann dies nach der Ära der Nullzinsen als Normalisierung ansehen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.