Schauspieler Manfred Liechti im Porträt«Ich habe Tyrannei und Brutalität selbst erlebt»
Er wurde 2023 zum besten Schweizer Schauspieler gekürt. Leben kann Manfred Liechti trotzdem nicht von seinen Rollen. Wie der Berner Halt in seinem Beruf als Stromer findet und was sein eindringliches Spiel mit seiner Kindheit zu tun hat.
Dieser Artikel stammt aus der Schweizer Familie
Seine Werkstatt nennt er «Labor». Das liegt in einer Scheune am Stadtrand von Bern. Dort macht er sich an diesem regnerischen Herbsttag an einer Werkbank an die Arbeit. Mit flinken Fingern versucht er, einem kaputten Lichtregler neues Leben einzuhauchen.
Er fixiert hier eine Schraube, wechselt dort eine Sicherung und prüft am Ende mit dem Messgerät, ob Strom fliesst. «Da hinger isch no Pfuus», sagt er, als die Lämpchen aufleuchten. «Aber vore isch d Leitig tot. Aus die Maus.»
So beurteilt Manfred Liechti, 66, seinen neusten Reparaturauftrag. Der Mann weiss, was er tut. Denn er ist Elektromonteur und verfügt über mehr als vier Jahrzehnte Berufserfahrung. Die Öffentlichkeit kennt den Berner mit der Halbglatze, den langen Haaren am Hinterkopf und dem Charaktergesicht allerdings von einer anderen Seite: als Schauspieler.
Er war in der TV-Serie «Wilder» zu sehen, im Film «La femme et le TGV» oder in «Die Herbstzeitlosen». «Doch von meinen Rollen allein kann ich nicht leben», gibt Liechti zu. Deshalb arbeitet er auch als Stromer, wie er seinen ersten Beruf nennt.
Seit zwanzig Jahren führt er ein kleines Unternehmen – den Liechti Gebäudereparaturservice. «Da kann ich mich vor Aufträgen kaum wehren. Ich bin ausgebucht.» Im Grunde müsste es umgekehrt sein. Denn als Schauspieler ist Manfred Liechti hierzulande eine feste Grösse. Mehr noch: Am 23. März wurde er zum Besten gekürt.
Für seine Rolle im Film «Peter K. – Alleine gegen den Staat» durfte er den Schweizer Filmpreis als bester Darsteller entgegennehmen. Der Preis sei eine Genugtuung und eine Anerkennung für seine Arbeit, sagt Liechti. «Für mich ist er wie ein Sechser im Lotto.»
Im Film verkörpert er die Figur des Rentners Peter Hans Kneubühl, der sich 2010 bei der Zwangsräumung seines Hauses in Biel zur Wehr setzte, auf einen Polizisten schoss und diesen schwer verletzte. Akribisch hatte sich der Schauspieler auf die Rolle vorbereitet. Stundenlang las er Kneubühls Tagebücher. Und er besuchte den Mann im Regionalgefängnis in Thun. «Ich erlebte ihn als freundlichen, jovialen älteren Herrn.» Über das, was seinerzeit in Biel vorgefallen war, redeten die beiden kaum. Dafür über ihre Kindheit und über ihre gemeinsame Liebe zum Wald.
Das Treffen habe ihm Sicherheit gegeben, um die anspruchsvolle Rolle zu spielen, sagt Manfred Liechti. Obwohl er persönlich überzeugt ist, dass die Situation damals bei einem rücksichtsvolleren Vorgehen der Behörden nicht derart eskaliert wäre, möchte er die Geschehnisse nicht schönreden. «Ich will Kneubühls Tat auch nicht entschuldigen», betont er. «Aber ich kann darstellen, wie es so weit kommen konnte.» Das tut der Berner auf der Leinwand 99 Minuten lang auf beklemmende Weise.
Jurymitglieder und Kritikerinnen loben sein eindringliches Spiel und seine Glaubwürdigkeit. Zudem erhielt der Schauspieler noch vor der Premiere eine Rückmeldung von dem, den er darstellt. Peter Hans Kneubühl schrieb ihm aus dem Gefängnis einen langen Brief und bedankte sich für seine Arbeit. «Das bedeutet mir so viel wie Ruhm und Ehre.»
Für Manfred Liechti ist die Geschichte des Bieler Rentners, die ihm seinen grössten Erfolg brachte, mehr als eine Rolle. Sie erinnert ihn an die eigene Biografie. Wie Kneubühl erlebte auch Liechti eine belastende Kindheit.
«Manchmal flüchteten wir in den Wald. Dort fühlten wir uns sicher.»
Er wuchs im bernischen Bümpliz in ärmlichen Verhältnissen auf. «Mein Vater war psychisch angeschlagen», erzählt er. Der Vater habe selten gearbeitet, habe mit seinen Wutausbrüchen zu Hause Angst und Schrecken verbreitet. «Er fluchte, brüllte herum, teilte Kopfnüsse aus.» Mehrmals habe er seinen jüngeren Bruder körperlich misshandelt. «Es war grauenhaft», sagt Liechti und findet für das Erlebte bis heute kaum Worte. In solchen Momenten hätten sie sich versteckt. «Manchmal flüchteten wir in den Wald. Dort fühlten wir uns sicher.»
Zum Glück hatten die fünf Kinder ihre Mama. Auf sie war Verlass. «Meine Mutter war eine wunderbare Frau», sagt Manfred Liechti. Von morgens bis abends rackerte sie sich mit Putzarbeiten ab, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Zudem stellte sie sich schützend vor ihre Kinder, wenn die Situation zu Hause eskalierte. Und manchmal nahm sie ihren Fredi einfach in den Arm – selbst dann, wenn der überbordete und einen Mitschüler verprügelte, weil der ihn gehänselt hatte. «Meine Mutter hat mich gerettet», sagt Manfred Liechti heute. «Ohne sie wäre ich abgestürzt.»
Nach dem Beruf die Berufung
Halt fand er auch im Beruf. Beim Elektrizitätswerk Bern machte er eine Lehre als Elektromonteur. Er hatte Talent, seine Hände waren geschickt. Zudem wurde ihm mit Adolf Fritz ein Monteur zur Seite gestellt, der mehr war als sein Betreuer. «Adolf war wie ein Vater für mich», sagt Manfred Liechti. Er brachte ihm nicht nur das Handwerk bei, sondern half ihm auch in privaten Belangen. Wenn Manfred nicht weiterwusste, hatte Adolf stets einen Rat parat. «Fredeli, wes ruschet i dim Chopf, de muesch wie bi me ne Radio witer dräje u fiin iisteue», sagte er ihm eines Tages, als er mit sich und den Umständen haderte. «Bis du dr richtig Sänder gfunge hesch.»
Diese Sätze hat Manfred Liechti verinnerlicht. Und er hatte sie damals sozusagen aufs eigene Leben übertragen.
So blieb Liechti auch nach der Lehre offen für Neues und suchte, bis er nach dem Beruf seine Berufung gefunden hatte. Mit 27 war es so weit. Da wurde er von einer Bekannten zu einer Probe bei der Neuen Volksbühne Bern eingeladen.
Wenige Monate später spielte er auf ebendieser Bühne seine erste grosse Rolle. In «Raba», einem Märchen für Erwachsene, mimte er den Hofnarren Pons – in grünen Balletthosen, Hemd, Frack und mit weiss geschminktem Gesicht. Das Publikum applaudierte schon, als er die Bühne betrat. Am Ende gab es stehende Ovationen. «Es war fantastisch», erinnert sich Manfred Liechti. «Das gab meinem Selbstvertrauen einen riesigen Schub.»
An der Seite von Jane Birkin
Die Rolle des Hofnarren markierte den Auftakt zu einer beeindruckenden Laufbahn. Manfred Liechti, der das Schauspielhandwerk mit der Interpretation seiner Rollen als Autodidakt erlernte, hat in Dutzenden von Theaterstücken und Filmen mitgewirkt. Er spielte im Ensemble der Theaterwerkstatt 1230 in Bern und am Theaterhaus Berlin. Er trat in «La femme et le TGV» an der Seite der Schauspiellegende Jane Birkin auf.
Oft wird Liechti für gebrochene Charaktere, Grobiane und Bösewichte gebucht.
In der TV-Serie «Wilder» agierte er als bärbeissiger Dorfbeizer, und im Film «Die Herbstzeitlosen» mimte er einen cholerischen Gemeindepräsidenten. Oft wird Liechti für gebrochene Charaktere, Grobiane und Bösewichte gebucht. «Mein Gesicht ist kein Samtkissen, das mit Perwoll gewaschen wurde», sagt er. Dank seiner Biografie könne er zudem aus dem Vollen schöpfen. «Ich habe Tyrannei und Brutalität, die in vielen meiner Figuren spürbar sind, früher selbst erlebt.»
Deshalb stellt der Berner das Böse so authentisch dar. Privat dagegen gilt er als lebensfroher Zeitgenosse. Liechti sei ein Optimist, habe einen feinen Humor und sei eine liebenswürdige Person, sagt Regisseur Timo von Gunten, der mehrere Filme mit Liechti gedreht hat. «Als Schauspieler ist Manfred eine Naturgewalt», sagt von Gunten. Er bringe sich stets zu mehr als hundert Prozent ein, scheue keinen Aufwand. «Zudem gelingt es ihm, zu seinen Figuren eine persönliche Verbindung herzustellen. So spielt er sie nicht nur, sondern wird selbst zur Figur.»
Trotz viel Lob und Erfolg ist Manfred Liechti beruflich auf sein zweites Standbein angewiesen. Der Markt sei hierzulande klein, begründet der Künstler. «Da gibt es nicht viele Rollen zu verteilen.» Deshalb steht Liechti Tag für Tag in seinem Labor. Dort flickt er Lampen, Toaster oder Staubsauger. Er wechselt an einem Rollator die Räder, bringt einen Bürostuhl auf Vordermann. Regelmässig rückt Liechti zudem mit seinem VW-Bus auf Baustellen aus.
Vor Ort montiert er elektrische Installationen. Er spitzt Mauern weg, verputzt Wände und reinigt auch mal einen verstopften Abfluss. «Ich mache alle Reparaturen im, am und rund ums Haus», erklärt Liechti, als würde er einen Werbespot aufsagen. Dabei hat dieser Mann noch nie Werbung gemacht. «Ich lebe von Mundpropaganda.»
«Der Liechti macht Liecht»
Mittlerweile ist Manfred Liechti 66 und kann sich doch nicht zur Ruhe setzen. Er habe keine Pension, und die AHV-Rente reiche nicht aus, um seinen Einpersonenhaushalt zu finanzieren. Darüber mag er aber nicht klagen. «Ich bin dankbar, wenn ich morgens beim Aufstehen merke, dass alles funktioniert.»
Als Elektromonteur schätze er den Kontakt zur Kundschaft und die Freiheit. Als Schauspieler hofft er aber, dass er dank seines Filmpreises neue Rollenangebote bekommt. Er würde gern einmal in einem Shakespeare-Drama als Richard der Dritte auf der Bühne stehen oder in einem Film einen Vampir spielen. «Aber ich muss abwarten», sagt Liechti. «Und weiterarbeiten.»
Sagts und steigt in seinen VW-Bus. Denn der nächste Kunde wartet. Ihm will der Elektromonteur noch heute Abend zu Hilfe eilen – auf dass der Strom fliesst. «Der Liechti macht Liecht», sagt der Büezer mit einem Lächeln. Dann braust er in der einbrechenden Dämmerung davon.
Manfred Liechti sehen
«Peter K. – Alleine gegen den Staat» wird an folgenden Daten gezeigt: am 17. 11. im Kino Cinématte in Bern, am 18. 11. im Kino Meiringen, am 19. 11. im Dorfhus Spiez. Ab Ende November ist der Film als DVD erhältlich: aardvarkfilm.com
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