Ausnahmeschauspielerin im Porträt«Hässlichkeit hat mehr Möglichkeiten»
Die Zürcher Schauspielerin Annina Machaz ist Teil eines globalen Theatererfolgs, der das Publikum gemäss «New York Times» bis «zum Äussersten» pusht. Nun tritt die 34-Jährige an zwei Abenden in Zürich auf.
Wütend knallen Zuschauer Türen hinter sich zu, wenn sie an diesem Abend den Theatersaal vorzeitig verlassen. Aber das sind Ausnahmen. Am Ende tobt der Saal vor Begeisterung – angesichts dieser grossen Revue mit Helikopter, Schwimmchoreografien und viel nackter Haut: Das Parkett und die vollen Ränge erheben sich, um dem Ensemble von Florentina Holzingers «Ophelia’s Got Talent» zu applaudieren.
Es ist ein quasi programmierter Begeisterungssturm. Denn seit etwas mehr als drei Jahren sind die Arbeiten der Choreografin und Theatermacherin Florentina Holzinger und ihrer ausschliesslich weiblichen Ensembles ein globaler Erfolg, gefeiert von Publikum und Kritik, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, eingeladen zu grossen Festivals, von Berlin über Australien bis nach Tasmanien.
Ösen im Rückenfleisch
Teil dieses Welterfolgs ist die 34-jährige Zürcherin Annina Machaz. Sie hat an diesem Abend im Wiener Volkstheater mit seinen etwas mehr als 800 Plätzen die Inszenierung eröffnet und in der Rolle einer Piratin durch sie hindurchgeführt – wie in anderen Arbeiten der österreichischen Choreografin, über die es in der «New York Times» mal hiess, sie pushe ihre Performerinnen und das Publikum «zum Äussersten».
Aus Publikumssicht ist das keine Übertreibung: Holzinger geht mit ihren Bühnenarbeiten fast immer an die Schmerzgrenzen, etwa in «Tanz», einem Bühnenstück, das diesen Freitag und am Samstag in Zürich zu sehen ist. Darin wird der Traum des romantischen Balletts von Leichtigkeit am Ende mal sehr wörtlich genommen: Eine Performerin wird von Machaz (in der Rolle einer Hexe) mit einem über Rollen geführten Seil in die Höhe gehoben – mit Ösen, die zuvor ins nackte Rückenfleisch der Performerin getrieben wurden.
Wie kommt man dazu, in solch extremen Bühnenproduktionen mitzuwirken?
Nervenkitzel beim Stunt-Training
«Ich finde es schwierig, dass viele denken, rund um die Arbeiten, in denen ich mitwirke, sei alles so crazy wie auf der Bühne», sagt Annina Machaz bei einer ersten Begegnung in Wien. «Klar, auch mir macht es Spass, mal etwas auszuprobieren», sagt die Schauspielerin – und zeigt auf ihrem Handy ein Foto, auf dem ihr Körper in Flammen steht.
Das Foto mit der brennenden Zürcherin wurde bei einem Stunt-Training aufgenommen, das Machaz zusammen mit ihren Kolleginnen des Holzinger-Ensembles absolvieren konnte – mit der nötigen Schutzkleidung und unter Anleitung von Profis, wie alles in den Bühnenproduktionen der Choreografin.
Horror, Humor und Hoffnung
Für Annina Machaz gehört der Nervenkitzel, den sie beim Stunt-Training erlebt, auch zum Theater, also «dass man sich auf etwas bisher Unbekanntes einlässt und nie wirklich weiss, was in einer Inszenierung alles passiert». Dennoch würde man Florentina Holzingers Produktionen verkennen, wenn man sie aufs Extreme, die spektakulären Show- und Schockeffekte, reduzieren würde. Auch Machaz geht es um mehr: um die Verbindung von Horror und Humor, wie sie sagt – und um Hoffnung.
Was damit gemeint ist, will uns Annina Machaz an diesem Nachmittag erklären, an dem wir sie bei den Vorbereitungen zu ihrem abendlichen Auftritt in Wien begleiten können. Mehr als die Hälfte des Jahres ist sie inzwischen mit den Holzinger-Produktionen unterwegs. In Zürich ist sie nur selten, obwohl sie sich nach wie vor hier heimisch fühlt – und obwohl sie hier mit einem Kinderstück am Theater Neumarkt, einem Tanzstück mit dem Theater Hora oder mit ihrer eigenen Kampagne «Follow Us» auch eigene Arbeiten herausgebracht hat und den Nachwuchspreis Premio gewann. All das neben den Welttourneen mit den Stücken von Florentina Holzinger.
Das ständige Unterwegssein mit den Ensembles von Florentina Holzinger funktioniert nur, «weil wir» – so Annina Machaz – «alle miteinander befreundet sind und auch gern neben den Aufführungen und Proben miteinander Zeit verbringen». Und weil sie sehr diszipliniert sind: Vor dem Treffen hat Machaz den Plan für den Tag geschickt, an dem sie die erste von vier Aufführungen in Wien spielt. Machaz’ Tag beginnt um 12 Uhr mittags mit den ersten Vorbereitungen und endet um 23 Uhr. «Wenn wir nach einem solchen Tag noch wilde Party machen würden, wären die weiteren Aufführungen rein kräftemässig gar nicht mehr zu stemmen», sagt Machaz. Statt Party machen sie daher lieber mal eine Wanderung oder schauen sich – wie kürzlich bei einem Gastspiel in Bozen – gemeinsam den Eismenschen Ötzi an.
Machaz nimmt uns mit in die Garderobe, wo sie sich für Holzingers «Ophelia’s Got Talent» zum Piraten umgestalten – besser gesagt: verwüsten – lässt. Die Maskenbildnerin klebt ihr Brusthaar und einen Bart an, schwärzt ihr die Zähne, bevor sich Machaz eine Kontaktlinse einsetzt, die eine blutig-gebrochene Pupille vortäuscht. Fertig ist ihr Captain Hook, mit dem sie durch den Abend führen wird.
«Hässlichkeit hat mehr Möglichkeiten als blosse Schönheit», kommentiert Machaz die Maskerade zum Piraten. Die Möglichkeit zur Verwandlung ist es denn auch, die sie am Theater reizt. Anders als die Performerin, die sich am Rückenfleisch in «Tanz» aufhängen lässt, oder die anderen Holzinger-Kolleginnen, die sich bei der Arbeit an «Ophelia’s Got Talent» einen Anker tätowieren liessen, kommt das für die Zürcherin nicht infrage. «Wenn ich mich tätowieren liesse, könnte ich ja nie mehr eine Nonne spielen», sagt Piratin Machaz.
Das Loch in der Seele
Annina Machaz’ Captain Hook ist denn auch vielschichtiger als nur eine lustige Conférencière-Figur – wie auch die Abende von Holzinger nicht nur aus einer Aneinanderreihung aus Show und Stunts bestehen. Es gibt darin auch Raum für Hoffnung, für den Umgang mit Schmerz: «Ein Arzt hat mir mal gesagt, ein Alkoholiker habe ein Loch in seiner Seele», heisst es in einem Monolog, den Annina Machaz gegen Ende von «Ophelia’s Got Talent» einsam in einem grossen Lichtkegel auf Englisch vorträgt, daher könne der Durst eines Alkoholikers nie gestillt werden.
Den Monolog in Gedichtform hat Machaz selbst geschrieben. Er handelt von ihren eigenen Familiengeschichten, Erlebnissen und ihrem geliebten Vater, der vor einigen Jahren gestorben ist.
Sie fühlte sich nie benachteiligt
Wichtig war Theater für Annina Machaz eigentlich schon immer: Nach einem Praxisjahr am Zürcher Schauspielhaus und einer Ausbildung an der Berner Schauspielschule kam Machaz in Kontakt mit Florentina Holzinger, am Zürcher Tanzhaus kam es zu einer ersten Zusammenarbeit.
«Danach ging es mir immer besser», sagt Annina Machaz, wenn sie sich im Gespräch an ihre ersten Bühnenerfahrungen erinnert. Von Theater als Therapie hält die Schauspielerin dennoch wenig. Ihr geht es um etwas anderes – gerade angesichts all der Schrecknisse in der Welt: «Manchmal kann man den Leuten etwas Hoffnung geben, indem man sie in eine andere Welt entführt», wie Machaz sagt – und indem gezeigt wird, was neben allen Widrigkeiten dieser Welt auch noch alles möglich ist. Wenn auch nur für einen Theaterabend von etwas mehr als zwei Stunden.
Die Theaterabende von Holzinger sind eigentlich immer solche Eröffnungen von Gegenwelten. Auch in «Tanz», wo der sexualisierte Blick auf den nackten weiblichen Körper mehrfach gebrochen wird. Denn ja, bei Florentina Holzinger sind die Performerinnen fast immer nackt. Auch Annina Machaz, die in der nackten Haut lediglich eine Art von Kostüm sieht.
Aber bei Holzinger geht es um mehr, auch in «Tanz»: Da gibt es diese eine Szene, in der die 84-jährige Ballettlehrerin Beatrice «Trixie» Cordua das Ensemble zur «Vagina-Kontrolle» auffordert und mit zahlreichen drastischen Kommentaren den sexualisierten Blick endgültig seiner Lächerlichkeit preisgibt.
Wegen solcher Szenen werden Florentina Holzingers Arbeiten oft als feministische Kunst beschrieben. Machaz selbst will sich dieses Label nicht zu eigen machen. «Ich bin so erzogen worden, dass Frauen alles tun können. Ich habe mich auch nie benachteiligt gefühlt.» Zu stark sei das Vorbild ihrer Mutter, die eine erfolgreiche Geschäftsfrau ist.
Eine von Annina Machaz’ Stärken sei ihre Unabhängigkeit von Diskursen, sagt Florentina Holzinger, als wir mit ihr kurz über die Zusammenarbeit sprechen können. Das ist ein grosses Kompliment – angesichts einer Theaterszene, die in den letzten Jahren etwas unter Verkopfung litt. Und die mit den Abenden von Florentina Holzinger gerade wieder erlebt, welche utopische Kraft sie haben könnte, nicht zuletzt dank Annina Machaz, die vielleicht schon jetzt das macht, was möglich wäre, wenn sich der Feminismus mit all seinen Forderungen vollständig durchsetzen würde.
Florentina Holzingers «Tanz» mit Annina Machaz gastiert am 10./11. November am Theaterhaus Gessnerallee in Zürich.
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