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Nothilfe im Gazastreifen
«Babys sind sich selbst überlassen – weil keiner Zeit für sie hat»

epa11072402 (FILE) - epaselect epa10986067 Health personnel prepare premature babies to be transferred to Egypt after they were evacuated from Gaza’s Al-Shifa hospital, at the Emirates Crescent Hospital in Rafah, southern Gaza, 20 November 2023. According to the Palestinian Red Crescent, 28 premature infants were transferred on 20 November from the Emirati Hospital to the Rafah Crossing, in coordination with the World Health Organization and the United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA). The Egyptian ministry of health said the infants would be transferred to receive medical treatment in Egyptian hospitals in Arish and Cairo.  EPA/HAITHAM IMAD  EPA-EFE/HAITHAM IMAD
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Seit einem halben Jahr herrscht im Gazastreifen Krieg. Die rund 2,2 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser wurden in den vergangenen Monaten mehrfach vertrieben, Tausende verloren ihr Leben. Die humanitäre Lage spitzt sich immer mehr zu. Rund 1,5 Millionen Menschen harren mittlerweile in der Stadt Rafah im Süden von Gaza aus.

Anja Bezold, Hebamme, Médecins sans Frontières

«Ich bin freiberufliche Hebamme und war seit 2018 schon mehrmals für Ärzte ohne Grenzen in Krisenregionen. Doch mein dreiwöchiger Einsatz im Februar in Gaza war anders. Dort herrscht aktives Kriegsgeschehen, die Menschen sind mittendrin. Sie denken noch nicht einmal daran, was danach sein könnte. Und im Gegensatz zu anderen Konfliktregionen können sie nirgends hinflüchten, die Palästinenserinnen und Palästinenser sind eingesperrt. Keiner nimmt sie auf. Nirgends ist es sicher.

Das wurde mir gleich bei der Ankunft klar. Als wir in die Stadt Rafah fuhren, waren da unfassbar viele Menschen, dieses Bild vergesse ich nie mehr. Sie müssen sich das vorstellen wie an einem Open-Air-Konzert, an dem Sie versuchen, mit dem Auto im Schritttempo irgendwie durch die Menge zu kommen.

Hebamme Anja Bezold war im Februar für drei Wochen in Gaza in der letzten intakten Geburtsklinik im Einsatz.

Die Menschen sind hauptsächlich auf der Strasse. Ihr Alltag besteht vor allem darin, an Lebensmittel zu kommen. Sie stehen für ein Brot schnell einmal sechs, sieben Stunden an.

Ich arbeitete in Rafah, wo die letzte Geburtsklinik in ganz Gaza betrieben wird. Das Team musste dort 100 Geburten am Tag stemmen, das müssen Sie sich einmal vorstellen! Sehr, sehr viele Kinder kommen zu früh zur Welt, weil die Mütter so gestresst und traumatisiert sind. Die Frühchenstation ist total überfüllt. Früher hatten sie dort bei hoher Auslastung zwölf Kinder, jetzt sind es über 60. Mehrere Babys liegen in einem Inkubator, überall piepsen die Monitore, die Ärztinnen rennen hin und her und kommen überhaupt nicht nach. Die Babys sind eigentlich sich selbst überlassen, weil niemand Zeit hat, sich um sie zu kümmern. Teils waren die Eltern gar nicht mehr auffindbar. Das war wirklich … (schluckt leer) es war kaum auszuhalten.

Den wenigen Spitälern in Gaza fehlt es an Medikamenten und Materialien. Als ich da war, kamen auch unsere LKW von Ärzte ohne Grenzen nicht ins Land rein. Viel zu viele Hilfslieferungen werden blockiert.

epa10986074 Health personnel prepare premature babies to be transferred to Egypt after they were evacuated from Gaza’s Al-Shifa hospital, at the Emirates Crescent Hospital in Rafah, southern Gaza, 20 November 2023. According to the Palestinian Red Crescent, 28 premature infants were transferred on 20 November from the Emirati Hospital to the Rafah Crossing, in coordination with the World Health Organization and the United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA). The Egyptian ministry of health said the infants would be transferred to receive medical treatment in Egyptian hospitals in Arish and Cairo.  EPA/HAITHAM IMAD

Wir mussten ständig improvisieren. Zum Beispiel gibt es keine Windeln mehr. Glücklicherweise wurden viele Damenbinden gespendet, also nutzten wir diese als Windeln. Oder es fehlte an Nabelklemmern. Und die sind notwendig, um die Nabelschnur nach der Geburt abzuklemmen. Also nahmen die Ärztinnen und Hebammen Garn oder Ähnliches, um sie abzubinden. Weil das viele nicht kannten, bluteten die Babys teils sehr stark aus dem Nabel, die Frauen waren verständlicherweise total verzweifelt. Handelt man da nicht schnell, können die Babys verbluten.

Ein Problem war und ist auch die Ernährung: Es hat kaum künstliche Babynahrung. Und wenn solche verfügbar war, fehlte es an sauberem Wasser, um die Fläschchen und Sauger zu reinigen. Also müssen die Mütter ihre Kinder dringend stillen. Sie sagen dann aber häufig: «Ich bin doch selber total ausgelaugt.» Dann muss man ihnen klarmachen, dass es die einzige Chance ist, damit ihr Kind überlebt.

Allgemein sind viele Mütter sehr verängstigt, sie wollen die Geburtsklinik möglichst schnell wieder verlassen. Sie haben aus der Vergangenheit gelernt, dass auch Spitäler nicht sicher sind und bombardiert werden können. Sie gehen lieber in ein kleines Zelt im Flüchtlingscamp zurück, so gross ist ihre Angst!

Ganz selten gab es aber auch Momente, die mir Hoffnung gaben. Wenn die Frauen zum Beispiel kamen und sagten: «Es ist so schön, dass ihr hier seid. Dass ihr aus einem anderen Land kommt, um uns zu helfen. Wir sind also doch nicht vergessen.»

Ich muss oft an eine 19-jährige Mutter denken, die ihren Mann während der Flucht verloren hat. Er wurde verhaftet, sie musste hochschwanger weiter nach Rafah. Es fiel ihr nach der Geburt extrem schwer, Kontakt zum Kind aufzubauen, weil sie nicht wusste, in was für eine Welt sie ihr Kind entlassen wird.»

Sam Rose, Planungschef, Palästinenser­hilfswerk UNRWA

«Seit über zwanzig Jahren arbeite ich regelmässig im Gazastreifen und habe auch einige Jahre hier gelebt. Doch wenn ich nun aus dem Fenster des UNRWA-Gesundheitscenters hier in Rafah blicke, übertrifft das alles, was ich bisher erlebt habe. Zehntausende Menschen sind da draussen, sitzen in Zelten und Notunterkünften, kämpfen ums tägliche Überleben.

Das Gebäude, in dem ich gerade bin, dient als Koordinationszentrum für zahlreiche humanitäre Organisationen. Wir arbeiten eng mit ihnen zusammen.

Mein Job ist eigentlich die strategische Planung der UNRWA. Da wir beispielsweise auch in Syrien oder im Libanon tätig sind, sind wir instabile Bedingungen gewohnt. Aber niemand hätte auch nur schon an einen Notfall dieses Ausmasses gedacht. Es ist schier unmöglich, die Nothilfe hier in Gaza längerfristig zu planen. Die Situation ist extrem volatil. Wir wissen nie, welche Hilfsmittel in welcher Menge an welchem Tag kommen. Ob sie überhaupt kommen. Auch verwehrt uns Israel den Zugang in den Norden, wo die Bevölkerung besonders von Hungersnot bedroht ist.

«Es ist schier unmöglich, die Nothilfe hier in Gaza längerfristig zu planen»: Sam Rose, Planungschef der UNRWA.

Vor dem Krieg arbeiteten 13’000 Angestellte für die UNRWA, hauptsächlich als Lehrerinnen und Lehrer. Heute können noch rund 3500 arbeiten, vor allem in Notunterkünften. Auch sie werden wegen der Bombenangriffe ständig wieder vertrieben, das macht die Planung zusätzlich schwierig. Statt 300’000 Kinder zu unterrichten, versorgen wir über eine Million Menschen mit Mehl und anderen Hilfsgütern und nehmen Hunderttausende in den Dutzenden UNRWA-Gebäuden auf, die als Notunterkünfte dienen.

Momentan planen wir für zwei sehr unterschiedliche Szenarien. Einerseits für eine Waffenruhe, die Aussichten darauf haben sich dank der UNO-Resolution möglicherweise verbessert. Andererseits für die von Israel angekündigte Offensive auf Rafah, die katastrophale Folgen für die Menschen hier hätte.

Auch der nahende Sommer bereitet mir Sorgen – wenn zu allem Elend auch noch die Hitze dazukommt, die das Verbreiten von Krankheiten begünstigt. Das Immunsystem der Menschen hier wurde in den letzten Monaten massiv geschwächt, die Menschen sind unterernährt, und es gibt kaum mehr sanitäre Einrichtungen.

Vertriebene Palästinenserinnen und Palästinenser im Innenhof einer UNRWA-Schule in Deir al-Balah, die zur Notunterkunft umfunktioniert wurde.

Hinzu kommen die finanziellen Sorgen. Seit Israel Ende Januar die schwerwiegende Anschuldigung erhoben hatte, dass Mitarbeitende von uns an den Anschlägen am 7. Oktober beteiligt gewesen sein sollen, haben wichtige Geldgeber wie die USA ihre Mittel eingestellt. Das ist für uns verheerend. Stand heute reicht uns das Geld bis Ende Mai, dann müssten wir unsere Arbeit hier einstellen, falls keine blockierten Gelder freigegeben werden.

Natürlich beschäftigt mich das. Sehr sogar. Aber wenn man hier ist, konzentriert man sich auf die Unmittelbarkeit des Alltags. Auf das tägliche Elend und die Angst der Menschen hier in Gaza.

Die allermeisten unserer Mitarbeitenden sind selber palästinensische Flüchtlinge. Sie kämpfen nun wie alle anderen täglich um Nahrung und Wasser und leben in Zelten. Sie verlieren Familienangehörige und Kolleginnen und Kollegen bei Bombenanschlägen – und kommen am nächsten Tag wieder zur Arbeit. Weil es sie braucht. Seit Kriegsausbruch sind über 170 unserer Mitarbeitenden gestorben. Viele werden vermisst, möglicherweise sind sie irgendwo unter den Trümmern eingeschlossen.

Gleichzeitig werden wir als Teil des Problems dargestellt. Ich finde, die Welt schuldet den UNRWA-Angestellten und allen humanitären Helfern hier Dankbarkeit – den Palästinensern wie den internationalen Helfern. Die Palästinenser leben unter extrem schlechten Bedingungen, und die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen – hauptsächlich Palästinenser – tun alles in ihrer Macht Stehende, um das Leid der Menschen zu begrenzen.»

Marina Peterhans, Programm­verantwortliche Nahost, Frieda

«Wir sind eine feministische Friedensorganisation aus Bern und arbeiten seit über fünfzig Jahren in Israel und Palästina. Gemeinsam mit israelischen und palästinensischen Frauenrechtsorganisationen setzen wir uns ein gegen geschlechtsspezifische Gewalt, für psychosoziale Unterstützung oder wirtschaftliches Empowerment. 

Der 7. Oktober war extrem einschneidend – für alle. Es wurde viel an gemeinsamer Basis zerstört. Kriege bedeuten immer einen extremen Backlash für Frauenrechte. Gewalt und Militarisierung rücken in den Fokus. Gemeinsam mit drei unserer Partnerorganisationen im Gazastreifen und in der Westbank konnten wir aber schnell reagieren und leisten seit November Nothilfe. 

Nothilfe-Koordinatorin Marina Peterhans von der Organisation Frieda - die feministische Friedensorganisation, anlässlich einer Reportage über die die humanitäre Schweiz in Gaza, am 04.04.2024 in Bern.  Foto: Christian Pfander / Tamedia AG

Klar, die Tötung mehrerer Mitarbeitenden von World Central Kitchen Anfang April in Gaza hat auch uns erschüttert und verunsichert. Man darf dabei aber nicht vergessen: Die allermeisten humanitären Helferinnen und Helfer sind selber aus dem Gazastreifen und waren nie in Sicherheit. Bislang wurden gegen 200 von ihnen getötet, auch sie wurden teilweise gezielt von Israel angegriffen. Der öffentliche Schock war nun wohl so gross, weil man offenbar geglaubt hatte, dass zumindest internationale Mitarbeitende sicherer agieren könnten. 

Was wir tun: Wir unterstützen unter anderem über 1500 Familien mit direkten Bargeldzahlungen, damit sie ihre Grundbedürfnisse decken können. Ohne Geld haben die Menschen keine Chance zu überleben. Es sind zum Beispiel alleinerziehende Mütter oder solche, die schon vor Kriegsausbruch besonders prekär gelebt haben. Ein Teil des Geldes für diese Projekte erhielten wir von der Glückskette, hinzu kommen private Spenden und solche von Institutionen oder Stiftungen.

Wie wir sicherstellen, dass das Geld zu den Richtigen kommt? Dafür gibt es ein ausgeklügeltes, international abgestimmtes System. Die Familien können den ihnen zustehenden Betrag an sogenannten Cashing Points abholen. Das sind quasi Verkaufsstellen der Bank of Palestine, wo Bankangestellte mittels Listen überprüfen können, wer Anrecht darauf hat.

Eine Untergruppe der UNO koordiniert, welche Bargeldorte offen sind. Das hängt vom Kriegsgeschehen und von Liquiditätsengpässen ab. Die Gruppe ist auch zuständig dafür, die Listen der Empfänger- und Familien verschiedener Organisationen abzugleichen. Damit niemand doppelt aufgeführt respektive das Geld wirklich fair verteilt wird. Zusätzlich wird mittels Sanktionslisten sichergestellt, dass niemand Geld erhält, der am Terrorangriff vom 7. Oktober beteiligt war.

Die zweite Nothilfe, die wir leisten, ist die psychosoziale Unterstützung. Konkret organisieren wir mit unseren Partnern Aktivitäten, in denen Kinder und Erwachsene einerseits einen Moment aus dem Kriegsalltag entfliehen können, andererseits geht es aber auch darum, einen Raum für den Umgang mit den traumatischen Erfahrungen zu schaffen. Sozialarbeitende, Psychologinnen oder Coaches unserer Partnerorganisationen leiten diese Angebote. 

Gemeinsam mit der Partnerorganisation Palestine Sports for Life organisiert Frieda Aktivitäten zur psychosozialen Unterstützung in Flüchtlingslagern im Gazastreifen.

Für die Kinder gibt es tägliche Sportprogramme oder Maltherapie, um Stress abzubauen und einen spielerischen Moment zu schaffen. Wir erreichen mit diesen Programmen über 25’000 Kinder. Man muss sich vorstellen: Die Kinder sind schwer traumatisiert, sie mussten teils schon mehrmals fliehen, sind dem permanenten Stress durch Bombardierungen ausgesetzt.

Was sie erleben, ist unvorstellbar. Gerade gestern hat mir jemand von unseren Partnern erzählt, was die Kinder in der Maltherapie zeichnen. Alle malen zerstörte Häuser und Bombenhagel. Es sind düstere Bilder, die zeigen, was der Krieg für einen Dauerstress für die Menschen bedeutet. Für uns ist klar: Die Zivilbevölkerung im Gazastreifen hat nur eine Zukunft, wenn es endlich einen permanenten Waffenstillstand und eine Beendigung der israelischen Besatzung gibt.»