Schweizer Grand Prix Literatur 2025Fleur Jaeggy, die vergessene Virtuosin der Schweizer Literatur
Heute erhält Jaeggy (84) den mit 40’000 Franken dotierten Preis. Hommage auf eine Autorin, die alles schreibt, was man sich heute zu denken verbietet.

Eine Frau sitzt im Restaurant, und plötzlich entsteht ein Blickkontakt mit dem Fisch im Aquarium. Der Fisch fängt an, die Frau schaut zurück. In der Erzählung «Eine Begegnung in der Bronx» ist die Erzählerin mit einem Psychoanalytiker im Restaurant, abwesend in den Gesprächen mit den Menschen, der Begegnung mit dem Fisch hingegen zugewandt. Aber sie kann ihn nicht retten, bald wird er aufgegessen. «Ich verlasse das Restaurant, nachdem ich mich von ihm verabschiedet habe. Ich sage ein paar Worte der Zuneigung. Ich bewege meine Lippen. Wie er. Und adieu.»
Es gibt in den Texten von Fleur Jaeggy keine Rettung und oft auch keinen Trost. Ihr Erzählen ist auch ohne Ironie oder Sarkasmus, wenn eine Frau gebraten wird und Jaeggy kommentiert: «Der Unterschied zu einem Tier am Spiess war gar nicht so gross.» Solche Grotesken funktionieren nur, wenn sie in einer Selbstverständlichkeit im Fleur-Jaeggy-Universum stattfinden. Und man denkt, ja, warum eigentlich nicht? Nur dann sind die Bilder nicht seltsam. Fleur Jaeggy war im Erzeugen solcher Bilder unvergleichlich.
Model und Schriftstellerin – in der Schweiz vergessen
Und sie ist eine Vergessene der Schweizer Literatur. Das ist eine kleinere Katastrophe, wenn man bedenkt: Mit Ingeborg Bachmann war sie gut befreundet, mit Adelphi-Verleger Roberto Calasso war sie bis 2021 verheiratet, und Susan Sontag habe Jaeggy für ihren lakonischen Erzählstil bewundert. Geboren 1940 in Zürich, folgte eine Kindheit und Jugend im Internat, bis Jaeggy nach Italien floh, um sich dort als Model und Schriftstellerin ein Leben aufzubauen.
Ihre schmalen Bücher, Erzählungen oder Romane sind manchmal gerade einmal 100, ab und zu vielleicht sogar 120 Seiten lang. «Die Angst vor dem Himmel» sind Erzählungen, «Ich bin der Bruder von XX» ebenfalls, «Proleterka» ist ein Roman, und ihr vielleicht bekanntestes Buch heisst «Die seligen Jahre der Züchtigung». Wenig wurde überhaupt aus dem Italienischen übersetzt, aber zum Glück hat sich der Suhrkamp-Verlag darum gekümmert, dass dem jetzt so ist.

Die vergessene Schriftstellerin lebt in Mailand, wenn man sie für Interviews anruft, geht sie nicht ans Telefon. Sie ist, was auch ihre Figuren sind, irgendwie heimatlos. Sprachlich zumindest ist sie zwischen Italienisch, Französisch und Deutsch gross geworden, und leider ist ihre Schreibmaschine des Typs Hermes Ambassador nicht mehr in Betrieb. Sie schreibt schon lange nicht mehr.
Was aber erst recht für ihr Werk spricht, wenn auch spät, dass sie letztes Jahr mit dem Gottfried-Keller-Preis und heute mit dem Schweizer Grand Prix Literatur geehrt wird. Stefan Zweifel schrieb in der Laudatio für den Gottfried-Keller-Preis, Fleur Jaeggy sei der heutigen Mode der autofiktionalen Romane lange vorausgegangen, wobei sie die Texte nie wirklich als autobiografisch abgesegnet habe. «Damit wir darin nicht ihr, sondern unser eigenes Leben lesen.»
Sie liess die Menschen in der Leere stehen
Wie zum Beispiel in der Kurzgeschichte «Ohne Schicksal. Eine Mutter steht mit einer Schere in der Hand vor ihrem schlafenden Kind, das sie hasst, seit es auf der Welt ist. Sie weiss nicht wohin mit der Schere, weiss aber, dass sie die Tochter doch nicht zur Pflegemutter geben wird. «Weshalb sollte diese Kleine, die sie hasst, ein besseres Leben haben?»
Es ist irritierend und immer existenziell, was den Figuren widerfährt. Und sie handeln darin oft instinktiv-archaisch. Als würde die Schriftstellerin jedem Satz das Blut entziehen, um uns dann mit der zentralen Tragödie zu konfrontieren, nicht mit der des Todes, sondern der des Lebens.
Virtuos leuchtet sie den Schrecken und die Grausamkeit des Lebens aus, ohne unsere Abgründe speziell ins Licht zu rücken, das tun wir beim Lesen dann schon selbst. Kühn schreibt Fleur Jaeggy über alles, was man sich heute zu denken verbietet.
Wobei, ist es wirklich kühn? Eigentlich nicht. Sie dachte alles bis zum Äussersten, schickte ihre Figuren in heillose Beziehungen, liess sie sich gegenseitig das Leben verunmöglichen und dann in der Leere des Lebens stehen. Das schrieb sie auf. Mehr sei es doch nicht gewesen, würde Fleur Jaeggy vermutlich dazu sagen.
Das Bundesamt für Kultur vergibt die Literaturpreise, dotiert mit je 25’000 Franken, dieses Jahr an Fabio Andina, Romain Buffat, Eva-Maria Leuenberger, Laura Leupi, Catherine Lovey, Nadine Olonetzky und Béla Rothenbühler. Der Verein Sofalesungen erhält den Spezialpreis Vermittlung in Höhe von 40’000 Franken.
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