Sanktionen wegen Ukraine-Krieg Schweiz verschont Russen, die hier spionierten und die mordeten
Der Bund hat EU-Massnahmen gegen Agenten nicht übernommen, die in die Ausforschung des Labors Spiez und in Giftattentate verwickelt waren.
«Die Schweiz übernimmt die EU-Sanktionen gegen Russland vollständig.» Das kündigte Bundespräsident Ignazio Cassis Ende Februar an. Zwei Wochen später konnte das Wirtschaftsdepartement des Kollegen Guy Parmelin vermelden: «Die Sanktionsliste der Schweiz entspricht vollständig derjenigen der EU.»
Doch die – seither wiederholt proklamierte – Vollständigkeit ist nicht ganz vollständig. Dies offenbart ein Abgleich der schwarzen Listen Brüssels und Berns durch das Online-Magazin «Republik». In der Schweiz sind demnach 27 russische und ukrainische Staatsbürger sowie vier Organisationen weniger sanktioniert als in der Europäischen Union.
Das ist zwar kein Riesenunterschied – angesichts der fast 900 Männer und Frauen, die mittlerweile nicht mehr auf allfälliges Besitztum in der Schweiz zurückgreifen können und auch nicht mehr ins Land einreisen dürfen.
Aber mehrere Namen bislang Verschonter lassen aufhorchen. Denn sie sind den Schweizer Sicherheitsbehörden bestens bekannt.
Vor dem Attentat noch schnell in die Schweiz
Es handelt sich nicht nur um prorussische Ukrainer wie den ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch, der sich 2014 nach Korruptionsvorwürfen und Protesten nach Moskau absetzte. Oder um die rechtsextreme Söldnertruppe Wagner, von deren führenden Exponenten die Schweiz einzelne sanktioniert hat und andere nicht. Sondern insbesondere um russische Agenten, welche Hacking- und Spionageoperationen auch gegen Schweizer Ziele und sogar Giftattentate ausführten. Ihnen ist gemein, dass sie vor dem russischen Überfall auf das Nachbarland von der EU sanktioniert worden sind – aber dass die Schweiz diese Massnahmen nicht nachvollzogen hat.
Gegen Ex-Präsident Janukowitsch und seine Entourage hat die Schweiz allerdings bereits noch früher Massnahmen erlassen. Gegen andere bis dato nicht.
Da wäre einmal Alexei Morenets. Der Agent des russischen Militärgeheimdienstes GRU hatte am Freitag, dem 13. April 2018, keinen Glückstag. Er wurde mit drei Arbeitskollegen in flagranti erwischt, als er in Den Haag von einem Parkplatz aus die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) elektronisch ausspionierte. Ein entscheidender Hinweis auf die Aktivitäten der GRU-Cybereinheit war vom Schweizer Nachrichtendienst des Bundes an die westlichen Partnerdienste gegangen.
Dank auf dem Parkplatz beim OPCW sichergestellten Beweisstücken stellte sich schnell heraus, dass Morenets und Konsorten danach in den Kanton Bern hätten reisen sollen, um auch das Labor Spiez auszuforschen. Zudem ergaben Ermittlungen, dass sie sich bereits in Lausanne aufgehalten hatten – für eine Infiltration der Netzwerke der Welt-Antidoping-Agentur. (Lesen Sie eine frühere Rekonstruktion zum Netzwerk.)
Die Schweizer Bundesanwaltschaft führt in diesem Zusammenhang ein Strafverfahren wegen Verdachts des politischen Nachrichtendienstes, zu dem sie der Bundesrat ermächtigt hat. Drei Verdächtige sind in der Schweiz zur Verhaftung ausgeschrieben.
Gar wiederholt am Genfersee waren weitere GRU-Agenten, die in Grossbritannien wegen des Giftanschlags auf den ehemaligen Doppelagenten Sergei Skripal und dessen Tochter angeklagt sind – auch noch kurz vor dem Attentat im englischen Salisbury im März 2018, dem eine unbeteiligte Frau zum Opfer fiel. (Die Aktivitäten dieser Gruppe in der Schweiz haben wir hier nachgezeichnet.)
In einem TV-Interview mit dem Propagandasender Russia Today (RT) behaupteten zwei der mutmasslichen Killer nach dem Auffliegen, sie seien normale «Mittelklasseunternehmer». In Südengland hätten sie die Kathedrale von Salisbury besichtigen wollen, in der Schweiz seien sie für ihre Sporternährungsgeschäfte gereist.
Auf der Sanktionsliste der Schweiz finden sich die mutmasslichen Skripal-Attentäter ebenso wenig wie die mit ihnen verbundenen Agenten, die für den Giftanschlag auf Oppositionspolitiker Alexei Nawalny verantwortlich gemacht werden. Die zuständigen Bundesbehörden lieferten am Mittwoch keine Erklärungen, warum diese und weitere mutmassliche Kriminelle von der Schweiz bislang verschont geblieben sind. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) weist aber darauf hin, der Bund sei «weder rechtlich noch politisch verpflichtet, die Sanktionen der EU zu übernehmen». Die Beurteilung erfolge «von Fall zu Fall aufgrund verschiedener aussenpolitischer, aussenwirtschaftspolitischer und rechtlicher Kriterien». Brüssel hatte die Massnahmen vor dem Einmarsch von Putins Armeen in der Ukraine erlassen – also zu einem Zeitpunkt, als Bern noch nicht alles praktisch unverändert übernahm.
«Wird derzeit bundesintern diskutiert»
Nun könnte sich die Schweiz doch noch bewegen. «Eine allfällige Übernahme dieser sogenannten thematischen Sanktionen der EU im Bereich Chemiewaffen, Cyber und Menschenrechte im Rahmen des Embargogesetzes», schreibt das Seco, «wird derzeit bundesintern diskutiert.» Der Bundesrat habe dazu aber noch keinen Beschluss gefasst. Bundesrat Parmelin verneinte an einer Medienkonferenz die Frage, ob es problematisch sei, diese Massnahmen nicht auch zu vollziehen. Er verwies darauf, dass die Schweiz seit Kriegsbeginn alle EU-Sanktionen übernommen habe.
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