Projekt European Sky ShieldNähert sich die Schweiz der Nato an?
Bundesrätin Amherd führt die Schweiz unter einen internationalen Raketenschirm. Die SVP warnt vor dem Ende der Neutralität. Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

Dass sich ein ausländisches Regierungsmitglied eine halbe Stunde lang den Fragen von Schweizer Medienleuten stellt, kommt selten vor. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hat es am Freitag bei seinem Besuch in Bern getan: Gemeinsam mit Bundesrätin Viola Amherd und seiner österreichischen Amtskollegin Klaudia Tanner trat Pistorius vor die Bundeshausmedien, um zum «European Sky Shield» Auskunft zu geben – jener deutschen Initiative für eine europäische Luftverteidigung, der sich die neutralen Länder Schweiz und Österreich nun anschliessen wollen. Offensichtlich ging es Amherd, Pistorius und Tanner bei diesem politisch heiklen Geschäft um die Demonstration von Transparenz und Einigkeit. Im Folgenden die wichtigsten Fragen und Antworten.
Was ist der «European Sky Shield» genau?
Es handelt sich um eine gemeinsame Reaktion europäischer Länder auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Ziel ist es, ein wirksames Luftverteidigungssystem aufzubauen – insbesondere gegen Raketenangriffe, mit denen Russlands Machthaber Wladimir Putin immer wieder droht. Die Anregung dazu gab der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im letzten August. Scholz erhofft sich tiefere Preise bei der Anschaffung der benötigten Waffensysteme. Im Ernstfall soll zudem die Zusammenarbeit reibungslos funktionieren. Pistorius benutzte dafür bei seinem Auftritt in Bern mehrfach den Begriff «interoperabel». Der Ukraine-Krieg habe gezeigt, dass die Bedeutung der Luftverteidigung nicht hoch genug eingeschätzt werden könne.
Handelt es sich um ein Nato-Projekt?
Nicht im formellen Sinn, doch die klare Mehrzahl der am Raketenschirm beteiligten Staaten gehört der Nato an. Mit der Schweiz und Österreich schliessen sich nun erstmals zwei Länder an, die weder Nato-Mitglied sind, noch es werden wollen. Allerdings macht längst nicht die gesamte Nato beim «European Sky Shield» mit. Gegenwärtig sind 19 europäische Länder dabei, neben Deutschland zum Beispiel auch Grossbritannien sowie die Staaten von Skandinavien und dem Baltikum. Es gibt aber auch wichtige Nationen, die fehlen, in erster Linie Frankreich.
Warum ist Frankreich nicht dabei?
Scholz lancierte seine Initiative offenbar ohne vorgängige Absprache mit Emmanuel Macron. Der französische Präsident reagierte düpiert, liess sogar ein geplantes Treffen mit Scholz platzen. Dass Frankreich bis heute eine Teilnahme am «European Sky Shield» verweigert, hat aber nicht bloss mit verletzter Eitelkeit zu tun. Den Franzosen missfällt es in strategischer Hinsicht, dass Scholz und seine Verbündeten zur Raketenabwehr auf Technologie aus den USA und Israel setzen. Die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA zu mindern, ist ein erklärtes Ziel Macrons.
Ist ein Schweizer Beitritt zum Raketenschirm mit der Neutralität vereinbar?
Die Absichtserklärungen, die Amherd und Tanner am Freitag unterzeichneten, sind mit «neutralitätsrechtlichen Vorbehalten» versehen. Damit werde jede Teilnahme an internationalen militärischen Konflikten ausgeschlossen, betonte Amherd. Aus ihrer Sicht ist damit den Verpflichtungen der Neutralität Genüge getan.

Hat Amherd denn recht mit ihrer Einschätzung?
Zu unterscheiden gilt es zwischen juristischen und politischen Aspekten. Das Neutralitätsrecht ist eindeutig kodifiziert; hier ist es wohl tatsächlich möglich, mit Vorbehalten etwaige Verletzungen zu vermeiden. Politisch kann die Beurteilung hingegen unterschiedlich ausfallen. Der Nachrichtenkanal der britischen BBC etwa vermeldete am Freitag, für die «neutral Swiss» sei der Beitritt zum Raketenschirm ein «historischer Moment». Ein gewisses Spannungsverhältnis zur althergebrachten schweizerischen Neutralitätsdoktrin wird im Ausland durchaus registriert.
Heisst das, wir nähern uns jetzt der Nato an?
Glaubt man der SVP, ist der Beitritt zum «European Sky Shield» gleichbedeutend mit einer «Natoisierung». Man gebe «die Souveränität der Schweiz bei der Verteidigung des eigenen Luftraums auf», heisst es im neuen SVP-Editorial. Beim Bund widerspricht man dieser Einschätzung vehement. Man trete keinem Bündnis bei und gebe keine Kompetenzen ab. Unbestritten ist, dass die Schweiz ihre Zusammenarbeit mit Nato-Staaten intensiviert, dass dies aber nicht einen Vollbeitritt präjudiziert.
Wird das Volk über den Raketenschirm abstimmen können?
Das Volk müsse zwingend das letzte Wort haben, fordert die SVP. Amherd hielt indes an der Medienkonferenz fest, dass der Bundesrat den Entscheid in eigener Kompetenz treffen könne, ohne Mitwirkung des Parlaments und des Volks. Eine Volksabstimmung über den Raketenschirm wäre somit nur durch eine Volksinitiative herbeizuführen.
Was erhofft sich Amherd von der Teilnahme konkret?
Das Verteidigungsdepartement will laut Communiqué «prüfen, in welchen Bereichen die Zusammenarbeit gestärkt werden soll». Vorstellbar seien zum Beispiel «Synergien» beim Betrieb des Luftverteidigungssystems Patriot. Dies könne auch zu Kosteneinsparungen führen.
Und welche Verpflichtungen lädt sich die Schweiz auf?
Jedes Land könne selber bestimmen, wo und in welchem Umfang es sich am Schirm beteiligen wolle, betont Amherds Departement. Boris Pistorius versuchte an der Medienkonferenz, etwaige Bedenken zu zerstreuen. Danach gefragt, welche Erwartungen er an die Schweiz und Österreich habe, antwortete der deutsche Verteidigungsminister kurz und bündig: «Keine.»
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