Scheinreferenden in der UkraineProrussische Behörden vermelden Siege in Saporischschja und Cherson
Moskau und prorussische Behörden haben Ergebnisse der Abstimmungen veröffentlicht. Die EU hat bereits Sanktionen in der Mache.

Die russischen Besatzer haben die Scheinreferenden in mehreren ukrainischen Gebieten für beendet erklärt und erste Ergebnisse der völkerrechtswidrigen Abstimmungen präsentiert.
Die prorussische Wahlbehörde in Saporischschja erklärte nach Auszählung aller Stimmen, dass laut vorläufigem Ergebnis 93,11 Prozent für eine Annexion gestimmt hätten. In der Region Cherson meldete die Besatzungsbehörde eine Zustimmung von 87,05 Prozent.
In der von prorussischen Separatisten kontrollierten Region Luhansk stimmten 98,42 Prozent für eine Annexion durch Russland, wie russische Nachrichtenagenturen mit Verweis auf örtliche Behörden berichteten.
Aus Wahllokalen in den besetzten Gebieten selbst gab es zunächst keine Angaben. Zur Stimmabgabe aufgerufen waren seit vergangenem Freitag auch ukrainische Flüchtlinge in Russland. Damit dürfte noch in dieser Woche eine beispiellose Annexionswelle beginnen.
Zwang zum Urnengang
Die Scheinreferenden werden weltweit nicht anerkannt, weil sie unter Verletzung ukrainischer und internationaler Gesetze und ohne demokratische Mindeststandards abgehalten werden. Beobachter hatten in den vergangenen Tagen auf zahlreiche Fälle hingewiesen, in denen die ukrainischen Bewohner der besetzten Gebiete zum Urnengang gezwungen wurden.
In einem nächsten Schritt wird erwartet, dass die von Moskau eingesetzten Besatzungsverwaltungen offiziell bei Kremlchef Wladimir Putin die Aufnahme in russisches Staatsgebiet beantragen. Der Kreml hatte mitgeteilt, dass dies schnell geschehen könnte. Putin hatte vor Beginn der Scheinreferenden betont, dass die Gebiete danach komplett unter dem Schutz der Atommacht Russland stünden.
EU hat Sanktionen schon in der Mache
Kiew wird sich von den Referenden nach eigenen Angaben nicht beeinflussen lassen. «Diese Massnahmen, diese Entscheidungen von Putin werden keinen Einfluss auf die Politik, Diplomatie und das Handeln der Ukraine auf dem Schlachtfeld haben», sagte Kiews Aussenminister Dmitro Kuleba am Dienstag auf einer Pressekonferenz.
Die Europäische Union hat weitere Sanktionen bereits in Vorbereitung. «Wenn Russland diese illegalen Referenden durchführt, werden Sanktionen der Europäischen Union folgen, mit der vollen Unterstützung meines Landes», sagte Frankreichs Aussenministerin Catherine Colonna am Dienstag bei einem Besuch in Kiew. «Diese Sanktionen werden wie die vorangegangenen in einem europäischen Rahmen getroffen.»
«Wir haben bereits ohne das Ende dieser Pseudoreferenden abzuwarten die Arbeit unter Europäern aufgenommen, die Konsultationen sind im Gange, um so schnell wie möglich zu einer neuen Serie von Sanktionen zu kommen», sagte Colonna nach Beratungen mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Dmitro Kuleba. «Diese werden einerseits individuell sein, um die Verantwortlichen dieser illegalen Operationen ins Visier zu nehmen und betreffen zweifellos andere Sektoren, die bisher noch nicht von Sanktionen betroffen waren und die dies nun sein werden.»
«Diese Farce in den besetzten Gebieten kann nicht einmal als Imitation von Referenden bezeichnet werden.»
Am Dienstag hatte Grossbritannien bereits weitere Sanktionen als Reaktion auf die Referenden angekündigt, die an ihrer Durchführung beteiligte Funktionäre sowie weitere Oligarchen treffen sollen. Die USA hatten am Freitag schon für den Fall einer Annexion der besetzten Gebiete in der Ukraine mit Wirtschaftssanktionen gedroht.
Nato-Chef: Scheinreferenden verstossen gegen internationales Recht
Die von Russland abgehaltenen Abstimmungen stellen nach Ansicht von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg einen dreisten Verstoss gegen internationales Recht dar.
«Die von Russland abgehaltenen Scheinreferenden haben keine Legitimität und sind ein eklatanter Verstoss gegen das Völkerrecht», schrieb er am Dienstag auf Twitter nach einem Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. «Diese Gebiete gehören zur Ukraine.» Stoltenberg habe erneut deutlich gemacht, dass die Nato-Alliierten die Souveränität der Ukraine und ihr Recht auf Selbstverteidigung uneingeschränkt unterstützten.
Russlands UNO-Botschafter: Prozess der Referenden wird weitergehen
Nach den Worten seines UNO-Botschafters geht Russland von weiteren Referenden in der Ukraine aus. «Dieser Prozess wird weitergehen, wenn Kiew seine Fehler und seine strategischen Verfehlungen nicht erkennt und sich nicht von den Interessen seiner eigenen Leute leiten lässt» und stattdessen blindlings den Willen jener ausführe, die sie manipulierten, sagte der russische UNO-Botschafter Wassili Nebensja am Dienstag bei einer Sitzung des Sicherheitsrates.
Die amerikanische UNO-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield sagte daraufhin, dass sie keinen Zweifel daran habe, dass Russland erneut Scheinreferenden abhalten werde. Schliesslich wäre Moskau bereits 2014 auf der Krim und zuletzt in der Ostukraine so vorgegangen.
Selenski: Russland wird UNO und Sicherheitsrat zerstören
Am Dienstag sprach Selenski in einer Video-Ansprache vor dem mächtigsten UNO-Gremium. «Diese Farce in den besetzten Gebieten kann nicht einmal als Imitation von Referenden bezeichnet werden,» sagte der ukrainische Präsident. Er warnte vor einer Zerstörung der internationalen Diplomatie durch Russland. Die Vertreter Moskaus hätten im UNO-Sicherheitsrat keine Waffen benutzt, sagte er. «Aber sicherlich wird es niemanden überraschen, wenn diese Rolle des UNO-Sicherheitsrates zur Zone der Gewalt seitens der Vertreter Russlands wird». Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Moskau die letzte noch funktionierende internationale Institution zerstöre, warnte er.

Vor Selenskis Rede war erwartet worden, dass die Vetomacht Russland den Auftritt zu verhindern versucht. Die Vertreter Moskaus verzichteten jedoch darauf, eine entsprechende Abstimmung zu beantragen.
In ähnlichen Situationen war Moskau damit zuletzt vor dem mächtigsten UNO-Gremium gescheitert. Bei solchen sogenannten prozeduralen Abstimmungen haben ständige Mitglieder kein Vetorecht, sondern brauchen eine Mehrheit von 9 der 15 Stimmen der Ratsmitglieder.
Kreml schwingt die Atom-Keule
Seit letzte Woche hatte Putin versucht, den Druck weiter zu erhöhen, indem er über die Möglichkeit eines russischen Atomwaffenangriffs sprach. Am Dienstag erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow, nach den Abstimmungen «wird sich die Situation aus rechtlicher Sicht radikal ändern, aus Sicht des Völkerrechts, mit allen damit einhergehenden Konsequenzen für den Schutz dieser Gebiete und der Gewährleistung ihrer Sicherheit».
Diese Position bekräftigte der Vizevorsitzende des russischen Sicherheitsrats, Ex-Präsident Dmitri Medwedew, am Dienstag – und spekulierte mit Blick auf die Versuche der Ukraine, von Russland besetzte Territorien zurückzuerobern, unverblümt über den Einsatz von Atomwaffen gegen das Land. Die USA und ihre Nato-Verbündeten verstünden, dass «wenn eine Bedrohung für Russland eine bestimmte Gefahrengrenze überschreitet, wir reagieren müssen werden, ohne irgendjemandes Zustimmung einzuholen und lange Konsultationen abzuhalten». Dies sei «sicherlich kein Bluff», fügte er hinzu.
Die USA und ihre Nato-Verbündeten würden es nicht wagen, im Falle eines Atomschlags gegen die Ukraine auch Russland atomar anzugreifen, sagte er. Der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, hatte Russland im Fernsehsender NBC für den Fall eines Atomwaffeneinsatzes in der Ukraine mit «katastrophalen Konsequenzen» gedroht. Zugleich sehen die USA die Nukleardrohungen des Kreml als Strategie an, Angst zu verbreiten.
Die fünftägigen Abstimmungen in den Donbass-Regionen Donezk und Luhansk sowie in Cherson und Saporischschja verliefen unterdessen alles andere als frei und fair. Zehntausende Einwohner sind aus den Regionen wegen des Kriegs bereits geflüchtet. Aufnahmen von jenen, die geblieben sind, zeigten bewaffnete russische Soldaten, die von Tür zu Tür gingen, um Druck auf Ukrainer auszuüben, abzustimmen. Am Dienstag war dies an fest eingerichteten Wahllokalen möglich.
Wie es nun weitergehen könnte
Nach den Referenden über einen Anschluss an Russland in vier von Moskau kontrollierten Gebieten in der Ukraine könnte die Annexion bereits Ende der Woche verkündet werden. So soll der Anschluss russischen Medien zufolge ablaufen:
SCHNELLE ERGEBNISSE: Obwohl es sich nach Ansicht westlicher Länder um blosse Scheinreferenden handelt, versucht der Kreml den Anschein einer echten Abstimmung zu wahren. Daher ist eine gewisse Zeit für die Auszählung der Stimmen angesetzt. Nach Ende der Abstimmung am Dienstag wird erwartet, dass die von Moskau eingesetzten «Wahlkommissionen» in den vier Gebieten frühestens am Dienstagabend oder in den darauffolgenden Tagen «vorläufige Ergebnisse» bekannt geben.
SONDERSITZUNG DES PARLAMENTS: Sollten die «Ja»-Stimmen laut offiziellem Ergebnis überwiegen – woran kein Zweifel besteht -, wird das russische Parlament über den Vertrag zur Aufnahme der Regionen in das russische Staatsgebiet abstimmen. Ein entsprechender Gesetzentwurf könnte der Duma bereits am Dienstagabend vorgelegt werden, berichteten die russischen Nachrichtenagenturen TASS und RIA Nowosti unter Berufung auf Parlamentsquellen.
Am Mittwoch könnte er demnach in einer Sondersitzung verabschiedet werden. Anschliessend muss das Oberhaus des Parlaments, der Föderationsrat, noch seine Zustimmung geben. Eine Formalität, die laut russischen Agenturen am Mittwoch oder Donnerstag vollzogen werden könnte.
VERKÜNDUNG DURCH DEN PRÄSIDENTEN: Nach Abschluss des parlamentarischen Verfahrens könnte Präsident Wladimir Putin möglicherweise schon am Freitag in einer Rede die Annexion der vier ukrainischen Gebiete verkünden. Einige Medien berichten von einer geplanten Rede vor den im Kreml versammelten Parlamentariern, andere von einer Ansprache vor einer der beiden Parlamentskammern. Laut TASS wurden die Senatoren aufgefordert, in Vorbereitung auf ein «wichtiges Ereignis» am Freitag drei Corona-Tests zu machen – eine Vorsichtsmassnahme, die für alle gilt, die Putin treffen.
Auch ein früherer Auftritt des Präsidenten ist nicht ausgeschlossen. 2014 hatte Putin nur zwei Tage nach dem «Referendum» auf der besetzten Krim bei einer Zeremonie im Kreml den Annexionsvertrag unterzeichnet – noch vor der Abstimmung des Parlaments.
AFP/SDA
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