Die Intendanz Stemann/von Blomberg geht zu Ende Tosender Applaus für eine queere Carmen mit Zombie
Die Performance-Gruppe Moved by the Motion rund um die Künstlerin Wu Tsang bekam für ihre sehr freie «Carmen»-Version stehende Ovationen.
Im Fond der Schiffbauhalle spielt das Orchester, das Collegium Novum Zürich, die Ouvertüre, vorne erscheinen in schmalen Lichtkegeln zwei aufrechte Carmen-Gestalten in blutroten Kleidern, eine dritte liegt am Boden in einer Lache aus Blut. Carmen selbdritt. Die expressive Bildsprache macht klar: Hausregisseurin Wu Tsang liest die Oper George Bizets von allem Anfang an vom brutalen Ende her. Der Soldat Don José hat seine Angebetete, die nicht mehr ihn liebt, sondern einen Stierkämpfer (Schauspieler Steven Sowah), erstochen; nur an seiner Seite hätte sie weiterleben dürfen.
«Wir sprechen von unserer ‹Leben nach dem Tod›-Trilogie», erklärt Wu Tsang im Programmheft und bezieht sich dabei auf drei der Werke, die sie mit ihrer fluiden Performance-Gruppe Moved by the Motion während der Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg geschaffen hat: «Moby Dick», «Pinocchio» und eben «Carmen»; mit dieser letzten grossen eigenen Premiere verabschiedet sich die Intendanz nun von Zürich beinahe schon (diverse Vorstellungen noch bis Ende Juni). In allen drei Fällen würden sich die Titelgestalten aus verschiedenen Gründen einer individualpsychologischen Lektüre verweigern, so die Künstlerin. Sie würden vielmehr zur unkaputtbaren Projektionsfläche, über Zeiten und Tod hinaus.
Totentanz
Tosh Basco von Moved by the Motion verkörpert dieses Bestreben hier als Zombie-Carmen, als wandelnde Leiche mit blutigen Zähnen, verfaulendem Gesicht und weissen Augen. Sie wird die gesamte gut dreistündige Aufführung zuckend und taumelnd begleiten, als ewige Präsenz des Sterbens, eine unglückliche Gevatterin Hein im Totentanz der Geschichte. So entsteht optisch auf die Dauer eine eher repetitive Randfigur, die in Wahrheit jedoch über alle herrscht (Choreografie: Josh Johnson).
In besagtem Programmheft-Gespräch dreht Tosh Basco die Zombie-Metaphorik noch einen Zacken weiter, indem sie Kassenschlager wie «Carmen» als «exquisite Leichname» bezeichnet, die stets kreativ umgebildet würden. Weiterentwickelt wurde auch die Vorlage der Oper, die Novelle von Prosper Mérimée (1845).
In der Rahmenhandlung sucht der Erzähler nach dem Ort, an dem Cäsars grosse spanische Schlacht stattfand. Texterin Sophia Al-Maria von Moved by the Motion schickt stattdessen eine junge französische Wissenschaftlerin namens Meriem (ungebrochen leidenschaftlich: Schauspielerin Perle Palombe) nach Sevilla, die ein Massengrab aus dem Bürgerkrieg freilegen und die sterblichen Überreste einer bekannten Widerstandskämpferin finden will.
Damit katapultiert die Autorin das Geschehen in die aktuellen Debatten Spaniens: Selbst nachdem 2021 ein jährlicher «Gedenktag an die Opfer der Franco-Diktatur» eingerichtet wurde, wehren sich manche Gemeinden gegen die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Freilegung von Gräbern.
Die musikalischen Anteile leuchten heraus
Die Rechten wollen lieber vergessen als erinnern: Das unterstreicht im Zürcher Stück auch die Chefin der Wissenschaftlerin (stark: Alicia Aumüller als zynische Vorgesetzte und als patriarchale Leutnantsperson). Sie sabotiert Meriems Suche nach der «Paloma Roja», der Widerstandskämpferin. Also zieht Meriem auf eigene Faust in die Felsenlandschaft, ins Totenreich – die Bühnenbildnerinnen Nicole Hoesli und Nina Mader stemmten einen Findling samt Inschrift «Libertad» auf die Bühne –, und trifft dort auch auf die freiheitsliebende Carmen.
Die Romni wird in dieser Inszenierung als «Flamenca» eingeführt, die in Sevilla den gleichen exotistischen Stereotypen begegnet wie einst die «Zigeunerin» George Bizets 1875. Zwei der drei Carmen-Figuren zählen zudem zur queeren Community (Tosh Basco, Benjamin Radjaipour). Die dritte, die schlicht umwerfende französische Mezzosopranistin Katia Ledoux, ist gleichfalls eine Besetzung gegen den Mainstream. Im Vorfeld der Premiere berichtete Ledoux, dass man einst versucht habe, ihr die «Carmen»-Träume auszureden: Dafür sei sie zu dick und zu schwarz.
Zu unserem Glück haben sich die Zeiten geändert: Ledoux ist ohne Wenn und Aber Herz und Highlight des Abends. Ihre Arien und ihre Duette mit dem gleichfalls hinreissenden amerikanischen Tenor Ryan Capozzo als liebestollem Don José sind zart, wild, berührend. Überhaupt sind es die musikalischen Anteile, die aus der gewagt heterogenen Soiree herausleuchten: Der Gesang, das Orchester unter der Leitung von Jonathan Palmer Lakeland und nicht zuletzt die auf der Bizet-Oper fussende grossartige, durchaus auch schräge Komposition von Andrew Yee (Moved by the Motion) waren wahrlich Grund genug für den lauten Premierenjubel und die stehenden Ovationen.
Das Bühnenbild bleibt dabei unaufdringlich wendig. Der Zigarettenrauch der Zigarrenfabrikarbeiterinnen umnebelt alle, die Gefängniszelle verwandelt sich in Windeseile in eine offene Tür, die Kneipe in eine Berglandschaft mit Baum und Zeltandeutung, diese wiederum in ein Reich der Schatten. Der Gegenwartsbezug – der verlogene akademische Betrieb und die Diskussion über die Massengräber – stürmt dagegen als eine Art Parforceritt in die Oper hinein.
Als Meriem sich zunehmend im eigenen Wahn verliert, verflüchtigt sich freilich die Kraft dieses Bezugs. Am Schluss deklamiert Meriem moirenhaft über Werden und Vergehen, übers unentrinnbare, vorwärtstreibende «Und» des Daseins. – Und: Weiter gehts auch am Schauspielhaus. Das kommende Team stellt sich am 7. Mai mit seinem Programm der Öffentlichkeit vor.
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