Interview zu Schweizer LiteraturhitKim de l’Horizon steht selbst auf der Pfauenbühne
Das preisgekrönte «Blutbuch» von Kim de l’Horizon wird zum «Blutstück». De l’Horizon performt mit und erzählt mit Regisseurin Leonie Böhm, wieso die Adaption eine Herausforderung war.

Kim de l’Horizon, Ihr mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis geehrtes «Blutbuch» kam schon mehrfach auf die Bühne. Ursprünglich war die Uraufführung ja in Zürich geplant, nun performen Sie bald bei der hiesigen Premiere – bedauern Sie die Verzögerungen?
De l’Horizon: Nein, diese Herausforderung ist exakt jetzt gut für mich. Die riesige Resonanz nach den Preisen war im Grunde viel zu gross, ich habe dann irgendwann für ein halbes Jahr keine Öffentlichkeitsarbeit mehr gemacht und auch keine Auftritte. Denn Aufmerksamkeit ist eine Droge und kann süchtig machen. Im Grunde bin ich froh, dass der Druck der Uraufführung weg ist. Die vorigen Inszenierungen haben mit dem Buch gearbeitet, aber ich habe mir für meine eigene Theatervision von Anfang an gewünscht, dass das Buch nicht als klassisches Sprechtheater auf die Bühne kommt.
Sondern?
De l’Horizon: Statt die Geschichte der Figuren und ihrer Konflikte einfach nachzuerzählen, wollen wir das Ringen mit den Machtverhältnissen, den Tabus, der Scham und der Gewalt – das im Buch ja auch auf einer formalen Ebene geschieht – in eine körperliche Form übersetzen. In eine Bühnenpräsenz. Ich weiss noch, am ersten Probentag habe ich gesagt: «Eigentlich bin ich voll genervt von dem Buch.» Aber jetzt ist etwas ganz anderes entstanden, ein fast unabhängiges Stück. Es ist gut, dass ich nicht involviert war in die Inszenierungen, die näher am Buch sind.
Was wünschen Sie sich in Zürich?
De l’Horizon: Mein Traumszenario ist, dass der Text das Sprungbrett ist für eine Art Performance, die jeden Abend neu generiert wird. Sodass die Premiere dann hoffentlich ein ganz anderer Abend ist als die Derniere. Und dafür ist die Regisseurin Leonie Böhm genau die Richtige.
Warum?
De l’Horizon: Ich hatte bei Leonie Böhms Arbeiten manche meiner schönsten Theatererlebnisse überhaupt: Wie sie Klassiker wie «Medea» oder «Kasimir und Karoline» performativ angegangen ist, war grossartig! Die Leute auf der Bühne sind bei ihr ebenso Autorinnen wie die Regie und der Text Instanzen sind, die irgendwie das Stück mitschreiben. Meine Theateragentin fragte mich: «Wenn du dir irgendwen wünschen könntest, der das inszeniert, wer wäre das?» Da habe ich «Leonie» gesagt, obwohl wir uns noch gar nicht kannten.
Frau Böhm, wie haben Sie das erlebt?
Böhm: Meine Mutter war begeistert von Kims Roman und schenkte ihn mir. Ich hatte das Gefühl, das Buch fasst mich an und spricht zu mir. Es hat mich tief berührt und wie ein Gegenüber erfasst. Ich finde, man kann das Buch als Gebrauchsanweisung begreifen für gesellschaftlichen Wandel. Dafür, wie wir einander und uns selbst befreien können aus unseren schambesetzten Tabuzonen. Ich denke, man sollte zusammen versuchen, alles Unterdrückte, alle Gewalt, alle Machtverhältnisse, die nicht geklärt sind, auf den Tisch zu legen. Damit wir anfangen, darüber miteinander zu sprechen und zu überlegen: Wer sind wir? Was haben wir für Werte? Und wie wollen wir zusammenleben?
Wie Sie es sich für Ihre Inszenierungen wünschen?
Böhm: Ja, ich finde interessant, wenn wir uns aufrichtig mit uns selbst auseinandersetzen und unser Denken offen zur Disposition stellen. Ich las das Buch und dachte: «Wow, genau das will ich mit Theater!» Dann kam der Anruf.
Kann man den Schauspielenden eine solche Aufgabe übertragen?
Böhm: Meine Stücke funktionieren nur dann, wenn die Spielerinnen und Spieler sich dafür entscheiden, ins konkrete Denken, Spielen, Handeln und Aushandeln hineinzugehen. Wenn sie sich nicht dafür entscheiden, entsteht sozusagen nichts. Im Probenprozess versuche ich, die Leute fit dafür zu machen, reale Begegnungen zu wagen, sich selbst in die Waagschale zu werfen. Darum ist die Situation auf der Bühne erst mal auch beängstigend. Sie braucht Mut. Wie das «Blutbuch» Mut gebraucht und sich mit seinen Diskursen angreifbar gemacht hat.
Es gab wüste Drohungen gegen Kim de l’Horizon in den sozialen Medien.
De l’Horizon: Das hat schon Angst gemacht. Den wahren Mut braucht es aber für das Schreiben selbst: Ich wusste nie, wohin das gehen soll, und habe stets eine möglichst grosse Offenheit bewahrt. Ich habe das Schreiben nicht gemeistert, sondern war eher ein Schreibkörper, durch den sich die Dinge und Stimmen im Buch selbst manifestiert haben. Und ich würde sagen, dass sich die Körper auf der Bühne auf diese Weise offen zur Verfügung stellen. Wie so oft, geht es mir um Prozesse des Fluidwerdens.
Fluidwerden?
De l’ Horizon: Alles Leben auf der Erde ist stark ans Element des Wassers, des Fliessens und des Austauschs gebunden. Wie in unserem Gespräch: Wir tauschen Atem und kondensiertes Wasser aus und sind schon in diesem Zerfliessen eigentlich körperlich ein Miteinander. Beim Theater wiederum gibt es den Resonanzraum von Publikum und Ensemble. Durch die Proben kam der Text für mich wieder ins Fliessen, und ich las manche Stellen völlig neu. Theater ist für mich ein Ort des freien Fliessens. Dass es oft nur für ein bildungsbürgerliches Publikum richtig zugänglich ist, kritisiere ich. Leonie Böhm – die ja bis jetzt nur Klassikerinszenierungen gemacht hat – gestaltet ihre Stücke aber sehr zugänglich.
«Da ist schon viel Blut geflossen, damit ich überhaupt in dieser Interviewsituation sitzen darf.»
Ihr Buch ist aber nicht unbedingt barrierefrei.
De l’Horizon: Dazu bekomme ich unterschiedliche Rückmeldungen. Ich habe ja Familie in Berlin wie im Bernbiet, wo es sehr ländlich ist – und auch dort hat das Buch viel Anklang gefunden. Ich selbst komme ja auch nicht aus einer gebildeten urbanen Schicht.
Böhm: Früher, im Studium, gab es immer wieder Kommilitonen, die dachten, wir sollten so viele Menschen wie möglich ins Theater holen. Ich finde toll am Theater, dass es ein überschaubares analoges Medium bleibt. Es darf natürlich trotzdem kein hermetisches Selbstbespiegelungsding sein. Aber wenn wir beim Theatermachen aufrichtig versuchen, uns miteinander in gesellschaftliche Prozesse hineinzubegeben oder ein ehrliches Gespräch miteinander zu führen, dann hat es sich schon gelohnt.
Wirklich? Und was ist mit den Besucherzahlen?
Böhm: Ich weiss, dass ich aus einer ultraprivilegierten Position spreche; dass da schon viel Blut geflossen ist, damit ich überhaupt in dieser Interviewsituation sitzen darf. Quasi x Sklaven haben das hier ermöglicht. Aber das heisst nicht, dass es sich nicht lohnt, zumindest zu probieren, in ein anderes Miteinander zu kommen, das dann vielleicht sogar in eine breitere Öffentlichkeit hineinwirkt. Fürs Nachdenken darüber ist das Theater ein wunderbares Medium. Ein Labor. Und ich erlebe da immer wieder die überraschendsten sozialen Win-win-Situationen und versuche, sie für mich als Modell zu begreifen – als kleine sozialpolitische Beweise für gelingendes Zusammenhandeln.
Hat das Zürcher Haus sich, als «Modell», zu sehr um Inklusion bemüht – zum eigenen Schaden?
De l’Horizon: Gesellschaftlicher Wandel ist nie linear, sondern höchst disruptiv. Ein Schritt nach vorne und fünf zurück. Das ist für mich jetzt kein Indiz, dass die Gesellschaft prinzipiell nicht bereit wäre für so ein Theater, wenn eine solche Intendanz nicht verlängert wird.
Böhm: Das Schauspielhaus hat viel versucht und in wahnsinnig kurzer Zeit irre viel verändert. Das ist in meinen Augen sehr ambitioniert. Vieles ist besser gelaufen, als es jetzt dargestellt wird, manches ist noch am Wachsen. Dass man am Haus zum Beispiel die eigene Vulnerabilität zeigen kann, ist eine Qualität, die man selten findet. Ich wünsche den scheidenden Intendanten, dass sie sehen werden, wie ihre Samen Früchte tragen.
Die Premiere von «Blutstück» ist am 22. Februar am Pfauen in Zürich.
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