Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen
Meinung

Kims Hexenapotheke
Heidnische Häutung against the Christmas Blues

ONLINE TEASER
Portrait von Kim de l’Horizon, Autorenbild der neuen Kolumnistinnen.
02.02.2023
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Ich glaube, vielen von uns fehlen bedeutungsvolle Rituale in dieser Zeit des Abschlusses und des Neuanfangs. Denn der eigentliche Anlass für das Fest ist ja nicht die Geburt des Retterbabys. Es gibt verschiedene Anhaltspunkte, wonach Jesus von Nazareth sogar weder im Jahre 0 noch an Weihnachten geboren ist. Dass diese Zeit gefeiert wird, hat erdigere, materiellere, heidnischere Gründe. Es ist die Wintersonnenwende. Es ist da kein Mann geboren, der unseren Seelen helfen soll, dem leidigen Leben auf dem Schmerzplaneten zu entfliehen. Sondern es ist der ganz konkrete Punkt im jährlichen Zyklus allen Lebens auf dieser Kosmoskartoffel: die Zeit, in der sich die hellsten Tage in der südlichen Hemisphäre wieder dunkleren zuwenden. Vice versa auf der nördlichen.

Ich glaube, wir brauchen Bräuche, die uns brauchen, die uns herausfordern, die von uns fordern, aus uns herauszukommen, aus unseren alten Häuten herauszuhüpfen, in die Gemeinschaft zu kommen, in das Zyklische zu kommen. Unter einem hastig erstandenen Baum austauschbare Gegenstände in die Hände von Menschen zu drücken, die keine Ahnung haben, wer mensch ist, ist kein Ritual. Ein Ritual, das ich als solches erachte, ist ein Gefäss in Zeit und Raum, in dem eine krasse Gegenwart der Anwesenden gesucht wird. In dem alle da sein können, wo sie gerade sind, und trotzdem in ein Miteinander kommen. Ich glaube, das fehlt uns. 

Die Geschichte der Göttin Inanna

Ich möchte hier ein Ritual teilen, das ich von einer mythologischen Erzählung abgeleitet habe. Ein Märchen über Inanna oder Ishtar, der mesopotamischen Göttin der Fruchtbarkeit und Liebe. Erst fragte ich mich, ob ich damit arbeiten dürfe oder ob das meiner kulturellen Verortung zu fern sei. Ich fand aber heraus, dass Inanna Vorbild für sehr viele spätere europäische Gottheiten war: Venus, Demeter, Aphrodite, Athene. Und ihre Unterweltsreise ist in zahlreiche mir nähere Mythologien eingegangen. Geschichten von Herkules, von Orpheus, der seine Geliebte Eurydike aus der Unterwelt retten muss, und von Persephone, deren halbjährige Verbannung in die Unterwelt sehr klar auf Inanna zurückgeht.

Nun denn zum eigentlichen Märchen. Um neue Kräfte zu gewinnen, will Inanna in die Unterwelt. Der Weg dorthin ist von sieben Toren versperrt, an denen sie je etwas ablegen, opfern muss. Ein Machtmittel, ein Insignium, etwas, das sie ausmacht. Nackt und machtlos wird sie schliesslich am Fleischerhaken der Unterwelt aufgehängt. Sie muss einen Tod sterben, um danach wieder durch die sieben Tore zu neuem Leben aufsteigen zu können. Während Inanna unten herumstirbt, ist eben das Leben oben auf der Erde aus dem Gleichgewicht; es gibt kein Essen und keine Geburten. Zwei Helfergeister bringen daher Inanna die Milch und das Essen des Lebens, um sie wiederzuerwecken. Sie darf die sieben Tore wieder hochgehen unter der Bedingung, dass sie einen Ersatzkörper in die Unterwelt schickt. Und das wird ihr Mann sein und dessen Schwester, die sich dann halbjährlich abtauschen, womit wir beim Zyklischen wären, bei der Wichtigkeit des Dunkel-Hell-Wechsels. Und das wäre mein Ritual zur Wintersonnenwende:

Beginne deinen Abstieg in die Unterwelt, sieben Tage bevor du Weihnachten feiern willst. Opfere jede Nacht etwas, das dich ausmacht, das dich zurückhält, von dem zu trennen dich aber auch schmerzt. Eine Haut. Zermörsere die Ohrringe deiner übergriffigen Grosstante und streue sie in den Wind. Verbrenne das Foto eines Ex-Mannes. Verschenke alte Kleider, die du eigentlich noch magst. Vergrabe einen Brief an dein altes Ich. Die letzte Haut lege am besten im Zusammensein von Menschen ab, von denen du dich gesehen fühlst. Und dann schenkt euch nach der letzten Häutung die Milch des Lebens und sein Essen. Keine Coop-Essenskörbe mit Pesto Pasta Plastik, sondern was selbst Zubereitetes.

Die nächsten sieben Nächte (zum Beispiel vom 25. bis zum 31.12.) ziehe neue Häute an. Lass dir Kleider schenken. Lederhosen. Tanze vor dem Spiegel, bis du dich selbst zum Lachen bringst. Probiere eine neues Lachen aus, das lauter und unkontrollierter ist. Stell dein Zimmer um. Tausche Bettwäsche mit dem Nachbarn. Get a tattoo. Und nachdem du die sieben Tore wieder hochgestiegen bist, begrüsse das Neue. Es muss nicht ein Völligneues sein. Es ist nur ein Versuch, für ein halbes Jahr vielleicht. Dann kannst auch diese Häute wieder ablegen, wenn du willst. Wähle sie immer wieder aufs Neue. Du musst nicht mit dir identisch sein.