Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen
Meinung

Petras Buchzeichen
Apokalypse oder Neuanfang?

ONLINE TEASER
Portrait von Petra Ivanov, Autorenbild der neuen Kolumnistinnen.
02.02.2023
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Abschiede mag ich nicht. Loslassen, egal ob für kurze Zeit oder für immer, löst in mir ein Verlustgefühl aus. Ich ziehe Telefongespräche in die Länge, verharre nach Besuchen unschlüssig auf der Türschwelle und lese Serien, weil sie immer weitergehen. Ich sehne mich im Herbst nach dem Frühling und am Abend nach dem Morgen. Pflege den Kontakt zu Menschen, mit denen ich lediglich die Vergangenheit teile, klammere mich an Erinnerungen und Gewohnheiten.

Besonders schwer fällt mir der Abschied von Romanfiguren. Wenn ich ein neues Buch beginne, taste ich mich langsam an die Figuren heran. Ich lerne ihre Charaktereigenschaften, ihre Vorlieben, Ziele und Wünsche kennen. Je länger ich schreibe, desto mehr werden sie Teil von mir. Ich schlüpfe in ihre Haut, sehe die Welt durch ihre Augen. Manchmal erwache ich mit einem vagen Gefühl der Bedrohung und stelle fest, dass nicht ich, sondern eine Romanfigur bedroht wird. Oder ich spüre eine Dringlichkeit, die ich mir nicht erklären kann, bis mir einfällt, dass sich meine Ermittlerin auf einer heissen Spur befindet.

Ich geniesse diese kostbaren Momente mit meinen Figuren.

Eines Tages aber ist auch der längste Roman zu Ende. Der Abschied kommt schleichend. Nach dem letzten Wort folgt eine Pause von einigen Wochen, anschliessend beginne ich mit der Überarbeitung des Manuskripts. Ich lese den Text durch, immer und immer wieder, suche nach Ungereimtheiten, losen Enden, Wiederholungen und Fehlern. Schon oft wurde ich gefragt, ob ich mich dabei nicht langweile. Ganz im Gegenteil, ich fühle mich wie ein Kind, das jeden Abend beim Zubettgehen die gleiche Geschichte hören will. Ich geniesse diese kostbaren Momente mit meinen Figuren.

Mit der Zeit werden die Pausen zwischen den Durchgängen länger. Nach der Überarbeitung verschicke ich das Manuskript an meine Gegenlesenden. Bis sie Zeit finden, den Text zu lesen, kann es Monate dauern. Dann, endlich, bin ich wieder mit meinen Figuren vereint, bevor sie erneut verreisen, diesmal ins Lektorat.

Schliesslich liegen die korrigierten Fahnen auf meinem Schreibtisch. Nun steht der endgültige Abschied bevor. Ein letztes Mal gehe ich den Text Wort für Wort durch. Ganz langsam, denn ich weiss, dieser Abschied ist endgültig. Meine Figuren sind flügge geworden.

Um nicht mit leeren Händen nach Hause zurückzukehren, kaufe ich ein Buch, dessen Titel mich anspricht: «Das Ende von allem».

Jetzt ist sie da. Die grosse Leere. Ich sage mir, dass ich nun alles nachholen kann, wofür ich während des Schreibens zu wenig Zeit hatte. Lesen, zum Beispiel. Entschlossen gehe ich in eine Buchhandlung. Streife umher. Schlage Bücher auf und schaffe es nicht, mich auf fremde Figuren einzulassen. Um nicht mit leeren Händen nach Hause zurückzukehren, kaufe ich ein Buch, dessen Titel mich anspricht: «Das Ende von allem».

Nun liege ich auf dem Sofa. Der Tag geht zu Ende, das Jahr ebenfalls. Auch das Universum wird früher oder später untergehen, lese ich. Ob die Expansion des Universums langsamer wird, bis sich alles aufgrund der Schwerkraft wieder zusammenzieht, oder ob sich die dunkle Energie immer weiter aufbläht, die Galaxien also auseinanderdriften wie meine Figuren, weiss niemand. Eines aber ist sicher: Das Ende kommt.

Oder doch nicht? Ich erfahre, dass es eine weitere Vorstellung gibt. Der Physiknobelpreisträger Roger Penrose glaubt, dass das Universum zyklisch ist. Er erklärt es folgendermassen: Nach der Expansion des Universums hört die Zeit auf zu existieren, denn Raumzeit wird durch Masse und Gravitation erzeugt. Fliegen aber nur noch masselose Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit umher, kann es keine Zeit mehr geben. Dieser Zustand kam bereits einmal vor, und zwar beim Urknall. Nach dem Aufblähen des Universums sind wir demnach wieder am gleichen Punkt wie vor dem Urknall. Das bedeutet, dass aus dem Ende ein neuer Anfang werden könnte.

Dieser Gedanke setzt Energie in mir frei. Keine dunkle, wie sie durch das Universum strömt, sondern kreative. Wenig später sitze ich an meinem Laptop und taste mich an eine neue Figur heran. Noch weiss ich nicht, welche Rolle sie in meinem Leben spielen wird. Doch ich spüre, dass sie eine Geschichte erzählen möchte.