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Meinung

Kims Hexenapotheke
Dürfen Männer überhaupt frei tanzen?

ONLINE TEASER
Portrait von Kim de l’Horizon, Autorenbild der neuen Kolumnistinnen.
02.02.2023
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)
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Am letzten Vollmond sind wir auf den Sabbat. Es war ein besonders garstiger Tag gewesen. Mundlos starrten wir in unsere flachen Kristallkugeln, hörten der Gewalt zu, wie sie Glied um Glied ihre Kette weiterschmiedet. Wir wussten, wir können nicht darüber sprechen, aber darüber schweigen können wir auch nicht. 

Und so sind wir auf den Sabbat. Und wir haben sogar Jens mitgenommen. Jens war noch nie auf dem Sabbat. Jens geht sonst in diese Clubs. Wenn Jens in die Clubs geht, steht er vor den Clubs oder am Rand der Clubs in den Neonlichtern und raucht und hat einen vollen Bart und sagt kluge Sätze. Jens also das erste Mal auf dem Sabbat. Wir zogen den Kreis. Riefen die Richtungen. Schützend mümmelten wir uns in die Zwischenschatten ein. Und so zog uns der stampfende Herzschlag des Planeten in seinen Bann.

Wir verloren uns aus den Augen und gewannen uns in den Körpern. Wir ehrten die Kräfte, die nicht Schönheit, nicht Gutes und nicht Reinheit wollen. Denn wer Schönes sucht, hasst Hässlichkeit. Wer rein Gutes will, muss Böses schaffen. Und wer der Reinheit huldigt, muss vor diesem Leben fliehen, denn es ist unrein, uneins, ein sich ewig neu mixendes Süppchen aus verschiedensten Körpern, Säften, Zellen. Wir riefen die Kräfte also, die die Transformation wollen, weg von der Gewalt, weg von den Dualismen und Hierarchien. Die das schleimige Verflechten wollen. Und so luden wir die Stampfkräfte in unsere Körper ein, und sie luden uns auf ihren Koboldkarren, und wir zuckten. Wir tanzten. Oder: Es tanzte uns.

Ein Körper unter Körpern sein

Jens sagte danach bei der Tasse Madensaft: «Ich habe mich noch selten so frei gefühlt.» Ich fand das so krass. Du wirst 33 Jahre alt und hast noch nie richtig frei getanzt. Frei wovon eigentlich? Und was ist denn das Tanzen? Ist doch einfach: ein Körper unter Körpern sein. Den Körper als Teil von etwas Grösserem zu geniessen. Natürlich konnte ich nicht umhin, diesen Mangel an Tanzfreude in Verbindung mit Jensens Geschlecht zu bringen, welches nämlich ein männliches zu sein scheint. Wir sassen da beim Madensaft, und ich sah die neue, unbekannte Freude in Jensens Gliedern. Da verband sich für mich sein Geschlecht, welches ein männliches zu sein scheint, mit dem Mangel an Tanzfreude, mit der jensischen Kühlnis – ehemals auch Coolness genannt –, mit dieser Kontrolliertheit, vielleicht sogar einer analytischen Überlegenheit, die nur zu erreichen ist, wenn du am Rand stehst und nicht ganz Teil bist. Dürfen Männer überhaupt frei tanzen?, fragte ich mich, die Normalos, nicht die Profis.

Ich versuchte mich zu erinnern an die düsteren Zeiten, in denen ich mich noch an dem Geschlecht, welches ein männliches zu sein schien, versucht habe. Habe ich da getanzt? Nein. Was ich auf der Tanzfläche gemacht habe, war der ständige Versuch, kühl zu sein, meine Glieder zu kontrollieren, damit sie vor allem eines nicht produzieren: Weiblichkeit. Sinnlichkeit. Was dann eben das Gegenteil gewesen wäre von Männlichkeit. Was eben hässlich gewesen wäre. Und umgekehrt. Gibt es nicht einen Sinnlichkeitszwang, wenn weibliche Körper tanzen? 

Ich tanze heute viel. So richtig gelöst aber nur mit eher weiblichen Körpern. Der Sabbat ist eine Ausnahme, aber das liegt am Sabbat, da kichern wir übers Geh-schlecht. What happens in the Sabbath, stays in the daddy-fucking Sabbath. Wovon befreien wir uns im Tanz, der weder «männlich-kühl» noch «weiblich-sinnlich» sein MUSS, sondern alles sein darf? Vielleicht eine Freiheit von diesem Ich.

Gibt es nicht einen Sinnlichkeitszwang, wenn weibliche Körper tanzen?

Gemeinsames rhythmisches Bewegen und Vibrieren stärkt das Zugehörigkeitsgefühl, die Kooperation, erzeugt Gemeinschaft. Sei das Singen, Tanzen – oder Marschieren. Versimpelt gesagt, würde ich das Singen und das Tanzen als eher von weiblichen Körpern erwünschte Tätigkeiten bezeichnen. Das Marschieren jedoch als stereotyp männliche. Ist es nicht so, dass das Militärische einer der wenigen Räume ist, in denen Männer körperliche Gemeinschaft erfahren? Na ja, Sport. Aber es geht um das Rhythmische, um die Trance, um den Verlust des Ichgefühls. Darum, vom einzelnen Körper in eine kollektive Körperlichkeit zu kommen.

Ist es nicht das, was zu tun ist, wenn wir nicht sprechen und nicht schweigen können? Tanzen. Keine hedonistische Party, sondern Rituale, in denen alle Geschlechter unabhängig von ihren Geschlechtern zusammen vibrieren können. In denen alles erlaubt ist, ausser sich mit Haut zu berühren. In Resonanz kommen mit den anwesenden Körpern – frei von Weichheit, die dem Tanzen zugeschrieben wird, frei von Härte, die dem Marschieren zugeschrieben wird, frei von Göttern oder Nationen oder Geschlechtern, die es zu verteidigen gilt. Frei von Ichs, voll von Wirs, von den Verworrenheiten, die wir – jede erdische Kreatur – sind. Go for it. Du brauchst keine Musik, keine Friends. Du wirst sehen. Auch eine Birke kann dein Tangolover sein. Komm ins Zusammenkommen. Es gibt eine Kraft darin, doch noch an dieses Projekt zu glauben, das so leicht anzuzweifeln ist, diese Menschenheit.