Frauen-Grossmeisterin aus BernDie Schweizer Schachmeisterin Lena Georgescu behauptet sich in einer Männerdomäne
Lena Georgescu trainiert 20 Stunden pro Woche, seit einem halben Jahr trägt sie den Titel Frauen-Grossmeisterin. Ein Gespräch über ihren Erfolg und ausrastende Männer.

- Die Berner Informatikstudentin Lena Georgescu gehört zu den besten Schachspielerinnen der Schweiz.
- Im August 2024 erhielt sie an einem internationalen Turnier im deutschen Rosenheim den Titel Frauen-Grossmeisterin.
- Als Mitglied mehrerer Teams absolviert sie jährlich siebzig internationale Wettkampfpartien.
- Ihr nächstes Ziel ist der zweithöchste Titel im Schachsport: internationaler Meister.
Sie hat sich dem Schach so sehr verschrieben, dass sie nachts gar davon träumt. Leider glänze sie dann meist nicht mit dem perfekten Zug und könne sich auch kaum aus einer heiklen Lage befreien. «Ich verliere gegen schwächere Gegner. Oder mein Handy läutet, und ich werde disqualifiziert», verrät sie. «In meinen Träumen läuft das Spiel suboptimal.»
Ganz anders ist die Wirklichkeit. Lena Georgescu, 25, hat im Schachsport mehr erreicht, als sie sich je erträumt hätte. Die Berner Informatikstudentin ist zurzeit die beste gebürtige Schweizer Spielerin. Sie ist mehrfache Schweizer Meisterin und Mitglied des Nationalteams. Im August letzten Jahres wurde sie beim Turnier im deutschen Rosenheim Frauen-Grossmeisterin und gewann den höchsten Titel im Frauenschach.
«Lena ist ein Aushängeschild», sagt Nguyen Ly, Präsident des Schachklubs Bern und Leiter Nachwuchsförderung und Ausbildung im Schweizerischen Schachbund. Sie sei nicht nur stark am Brett. «Mit ihrer Art ist Lena ein Vorbild. Sie ist bodenständig und bescheiden. Zudem wehrt sie sich mutig gegen die Diskriminierung von Frauen in unserem Sport und setzt sich für deren Gleichstellung ein.»
Lena Georgescu spielt seit zwanzig Jahren
Es ist halb elf an diesem Vormittag im März. Lena Georgescu und Nguyen Ly stehen sich am Schachbrett auf dem Bärenplatz in Bern gegenüber. Für den Journalisten wollen sie eine kurze Partie austragen. Georgescu darf beginnen. Sie nimmt erst den Bauern, der vor der Dame steht, zieht ihn zwei Felder nach vorn. Macht dann dasselbe mit dem Bauern daneben. Mit dem sogenannten «Damengambit» eröffnet sie die Partie.
Ihr Gegner Ly tut es ihr gleich. Er platziert seine beiden Bauern spiegelverkehrt, kontert mit «Albins Gegengambit». Er lächelt, bevor er den nächsten Zug macht. «Ich stelle Lena eine Falle», murmelt er. «Aber ich glaube nicht, dass sie darauf hereinfallen wird. Dafür ist sie taktisch zu gewieft.»

Lena Georgescu spielt seit zwanzig Jahren. Mit fünf lernte sie Schach von ihrem Vater, einem gebürtigen Rumänen. In der ersten und zweiten Klasse durfte sie im Rahmen der Begabtenförderung am Mittwochvormittag einen Schachkurs besuchen und mit einem Schweizer Meister trainieren, statt die Schulbank zu drücken. Mit acht kam sie zum Schachklub Bern.
«Zum Glück war mir in der Schule langweilig», sagt sie heute. «So entdeckte ich die Freude an diesem Sport.» Die Trainer erkannten früh ihr Talent. Lena habe nicht nur schnelles Denken, Ehrgeiz und Leidenschaft mitgebracht, erinnert sich ihr ehemaliger Trainer Marcel Gyger. «Sie hatte schon als Kind eine Hingabe zum Spiel und die Fähigkeit, in die Tiefe zu gehen.» Das brachte sie weit.

Mit 13 wurde sie Schweizer Meisterin der Juniorinnen. Mit 16 war sie als Jüngste im Land Fide-Meisterin, gewann den dritthöchsten Titel im Frauenschach.
Der Aufstieg des jungen Talents hatte aber auch Schattenseiten. Nicht alle mochten sich an ihrem Erfolg freuen. Als Mädchen war Lena Georgescu in der Minderheit und musste sich in einer Männerdomäne behaupten.
«Das war manchmal belastend», gibt sie zu. Einige ältere Herren hätten Mühe gehabt, gegen sie anzutreten oder – schlimmer noch – gegen sie zu verlieren. So gab es Männer, die sie wissen liessen, Frauen hätten in dieser Sportart nichts verloren. Einmal trat bei einem Turnier ein Mann nicht an, als er erfuhr, dass die Bernerin dabei war. Ein andermal sei einer gar ausgerastet, als er gegen sie auf verlorenem Posten stand, erzählt Lena Georgescu. «Er warf mir vor, ich spiele zu laut. Als er nicht aufhörte, zu schimpfen, wurde er zuerst verwarnt, dann disqualifiziert.»
Lena Georgescu vertraut auf ihren Killerinstinkt
Lena Georgescu hadert nicht mit dem, was ihr widerfahren ist. Mittlerweile erlebe sie solches Fehlverhalten selten, sagt sie. Das habe auch mit ihrem Alter und ihrer Erfahrung zu tun. Zudem habe sie gelernt, sich zur Wehr zu setzen. «Wenn mich jemand mit frauenfeindlichen Sprüchen angeht, stelle ich ihn zur Rede.» Gleichzeitig wolle sie aber nicht zu viel Energie auf das Thema verwenden. «Denn Ewiggestrige kann ich nicht ändern.»
Ihre stärkste Antwort gibt Lena Georgescu am Brett. Das hat sie von ihrem Vorbild, der Ungarin Judit Polgár, gelernt. Die 48-Jährige gilt als spielstärkste Frau der Geschichte. Sie besiegte Legenden wie den russischen Weltmeister Garri Kasparow, den sie 2002 zum Aufgeben zwang. Und sie stiess als einzige Frau unter die besten zehn der Welt vor. Schon als Kind schwärmte Georgescu für die Ausnahmekönnerin. Sie las Bücher von Polgár, analysierte ihre Partien. «Mir gefällt ihr Stil», sagt die Bernerin. «Sie spielt aggressiv.»
Wie sie selbst. Lena Georgescu pflegt den Angriff und nutzt ihren Killerinstinkt. Sie spüre, wenn der Weg zum König frei sei. «Ich versuche, meinen Gegner zu überrennen, und opfere dabei Figuren, um zum Ziel zu kommen.» Trotzdem sei sie nicht nur aufs Resultat aus, sagt ihr Jugendtrainer Marcel Gyger. «Lena ist eine Künstlerin. Sie spielt ein schönes Schach, versucht etwas Eigenes zu kreieren.»
Dafür scheut Lena Georgescu keinen Aufwand. Sie trainiert zwanzig Stunden pro Woche, arbeitet mit zwei Trainern. Sie ist im Nationalteam, spielt im bernischen Kirchberg, in Winterthur und im deutschen Karlsruhe in Teams aus Männern und Frauen Gruppenmeisterschaften. Pro Jahr absolviert sie 70 Wettkampfpartien. «Beim Schach komme ich stets auf neue Ideen, ich habe nie ausgelernt.»

Die Begeisterung und ihr unermüdlicher Einsatz tragen Früchte. Als Spitzensportlerin hat Lena Georgescu unvergessliche Momente erlebt. In Rosenheim feierte sie 2024 mit dem Titel als Frauen-Grossmeisterin ihren grössten Erfolg. 2022 reiste sie mit dem Nationalteam an die Schacholympiade ins indische Chennai und erlebte etwas Einmaliges. Mit ihrem Team erreichte sie zwar bloss den 48. Rang. «Aber wir wurden wie Stars behandelt, weil Schach in Indien so populär ist.» Ständig seien sie von Fans umringt gewesen. «Ich musste Autogramme geben und für Selfies posieren. Das war cool.»
Die Studentin lernte in ihrer Karriere aber auch bittere Lektionen. So verlor sie 2024 im Nationalteam bei einem internationalen Turnier in Apolda in Thüringen ihre Partie, weil sie sich Fehler leistete, ein Unentschieden ablehnte und am Ende doch verlor. «Das kostete mein Team Silber oder gar Gold.» In dieser Nacht habe sie kaum Schlaf gefunden. «Ich lief durch die Stadt, um den Tiefschlag zu verdauen und mich zu beruhigen.»
Nach einer Niederlage wie dieser ist Lena Georgescu froh, dass sie nicht vom Sport leben muss. Zu diesem Schluss war sie schon vor sechs Jahren gelangt. Nach der Matura hatte sie mit neunzehn ein Zwischenjahr eingelegt und sich allein auf ihre sportliche Karriere fokussiert. «Viele Kolleginnen und Kollegen gingen auf Reisen oder suchten einen Job, ich wurde Schachprofi.» Sie tourte mit ihrer Mutter oder allein durch Europa, absolvierte Turnier um Turnier. Und machte zwiespältige Erfahrungen. Sie habe in den Partien viel mehr überlegt, weil sie um jeden Preis gewinnen wollte. «Ich wurde immer verkrampfter und verbissener, verlor die Freude am Spiel.»
Der Spass am Schach steht im Mittelpunkt
Nach einem Jahr beendete Lena Georgescu das Experiment als Profi. Seither konzentriert sie sich auf ihre berufliche Laufbahn. Sie absolviert die Ausbildung zum Master in Informatik an der Universität Bern, arbeitet als Informatikerin an der Berner Fachhochschule. Schach bleibt ihr Hobby, obwohl sie es professionell betreibt.
«Betrachtet man Aufwand und Ertrag, ist das eine brotlose Kunst», räumt sie ein. «Meine Einnahmen decken die Ausgaben nur knapp.» Trotzdem setzt sie sich weiter hohe Ziele. Sie, die bei Turnieren immer wieder gegen Männer antritt und gewinnt, nimmt den zweithöchsten Titel im Schachsport ins Visier. «Ich will Internationaler Meister werden», sagt Lena Georgescu. «Das kann ich schaffen, wenn ich konsequent trainiere und gut spiele.»
Darum geht es auch an diesem Vormittag. Es ist kurz vor elf. Auf dem Bärenplatz in Bern steht die Partie vor der Entscheidung. Nguyen Ly lässt den Läufer laufen, die Falle schnappt zu. Mit dem Bauern rückt er auf die gegnerische Grundlinie vor, tauscht ihn in einen Springer um. Damit schlägt er die Dame seiner Gegnerin. Lena Georgescu muss aufgeben. Und der Laie fragt sich, warum diese Partie so schnell und unerwartet zu Ende gegangen ist. Sie hätten bloss einen uralten Eröffnungstrick demonstriert, erklärt Lena Georgescu. «Den Trick liebte ich schon als Kind. Jetzt bin ich selbst darauf hereingefallen», sagt sie ironisch. Dann fügt die Schweizer Königin am Schachbrett schmunzelnd an: «Am Ende ist es nur ein Spiel. Mehr nicht.»
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