Prozess in MoskauGericht verurteilt Nawalny zu dreieinhalb Jahren Haft
Der 44-Jährige Kreml-Gegner soll gegen Bewährungsauflagen verstossen haben und muss deshalb in ein Straflager. Nawalny hat die Vorwürfe zurückgewiesen und Präsident Putin in seinem Abschluss-Plädoyer schwer attackiert.

Der Kremlgegner Alexei Nawalny ist von einem Gericht in Moskau zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der 44-Jährige habe gegen Bewährungsauflagen in einem früheren Strafverfahren verstossen, teilte die Richterin am Dienstag mit. Mit Rücksicht auf ein Jahr, das er bereits unter Hausarrest verbrachte, muss Nawalny für zweieinhalb Jahre in Haft.
Das Verfahren steht als politisch motiviert in der Kritik. Anhänger Nawalnys haben nach der Urteilsverkündung via Twitter zu sofortiger Demonstration aufgerufen.
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Der Gegner von Präsident Wladimir Putin hatte sich in Deutschland fünf Monate lang von einem Anschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok erholt. Nawalny machte daher deutlich, dass er sich deshalb nicht habe in Moskau persönlich melden können. Die Staatsanwaltschaft wies dagegen darauf hin, dass Nawalny sich während seines Aufenthalts in Deutschland in Berlin frei bewegt, Interviews gegeben sowie Sport getrieben hatte, jedoch keinerlei Kontakt zur Strafvollzugsinspektion gesucht oder aufgenommen hätte.
Insgesamt soll der Oppositionspolitiker siebenmal seine obligatorische Meldefrist bei der Kontrollbehörde versäumt und sich so jeder Kontrolle entzogen haben.
Vor der Urteilsverkündung nutzte Nawalny seinen von Medien als «historisch» bezeichneten emotionalen Auftritt vor Gericht für einen neuen Angriff auf den Kremlchef.
«Wladimir, der Vergifter der Unterhosen»
Der Präsident werde als «Wladimir, der Vergifter der Unterhosen» in die russische Geschichte eingehen, sagte Nawalny. Er erinnerte daran, dass er selbst nur knapp einen Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok überlebte. Für das Attentat macht er Putin und Agenten des Inlandsgeheimdienstes FSB verantwortlich. Das «Killerkommando» soll das Nervengift in seiner Unterhose angebracht haben. «Sein einziges Kampfinstrument ist das Töten», sagte Nawalny mit Blick auf Putin.
Der wahre Grund für den Prozess gegen ihn sei «der Hass und die Angst eines Mannes», so Nawalny. Er habe Putin tödlich beleidigt, indem er überlebt habe.
Die Richterin forderte ihn auf, keine Politik zu machen. Nawalny dagegen appellierte an die Menschen, die Angst zu überwinden.
Grosses Polizeiaufgebot
Am Gerichtsgebäude agierte ein beispielloses Polizeiaufgebot. Hundertschaften der auf Anti-Terror-Einsätze spezialisierten Sonderpolizei OMON bewachten das Moskauer Stadtgericht und sperrten es weiträumig mit Metallgittern ab. Die Staatsmacht rüstete sich so gegen Proteste von Nawalnys Unterstützern. Das unabhängige Portal ovdinfo.org berichtete von mehr als 300 Festnahmen am Dienstag.

Es gab schon vor Beginn der Verhandlung erste Festnahmen, darunter zahlreiche Journalisten. Die Zufahrtsstrassen zum Gerichtsgebäude waren gesperrt, es standen zahlreiche Gefangenentransporter bereit. Es gab auch Polizei auf Pferden.
«Du böses Mädchen…»
Zum Prozess kam auch Nawalnys Ehefrau Julia Nawalnaja, die eine schwarze Gesichtsmaske trug. Nawalny stand in einem Glaskasten im Gerichtssaal und sprach mit seiner Frau, wie der Internetkanal Doschd berichtete. «Sie haben dich im Fernsehen in meiner Zelle gezeigt und erzählt, dass du ständig die öffentliche Ordnung störst. Böses Mädchen! Ich bin stolz auf dich», sagte er demnach. Nawalnaja war bei den Protesten zuletzt zweimal festgenommen worden. Am Montag wurde sie zu einer Busse von etwas mehr als 200 Franken (20’000 Rubel) verurteilt. Lesen Sie dazu auch: Die Frau, die keine Angst kennt.

Tränen bei Ehefrau
Während die Richterin im Eiltempo das Urteil sprach, malte Nawalny – mit Blick auf seine Frau – mit dem Finger mehrfach Herzen an die Scheibe in einem Glaskasten, in dem stand. Als klar war, dass er in ein Straflager soll, brach seine Ehefrau Julia Nawalnaja in Tränen aus. Sie nahm auch ihre schwarze Gesichtsmaske ab. «Bis bald. Sei nicht traurig. Alles wird gut», konnte er zum Abschied noch sagen.
Viele Experten sehen in dem Prozess einen neuen Versuch, den prominentesten Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Schweigen zu bringen. Nawalny überlebte im August nur knapp einen Mordanschlag mit dem international geächteten Nervengift Nowitschok. Er macht für das Attentat Putin und Agenten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB verantwortlich. Nawalny sieht den Prozess als Strafe des Kreml dafür, dass er nicht gestorben ist. Putin und der FSB hatten die Anschlagsvorwürfe zurückgewiesen.
«Patient – hören Sie etwa dem Präsidenten nicht zu?»
In der Zeit in Deutschland, als Nawalny sich von dem Attentat erholte, soll er sich – anders als in dem früheren umstrittenen Strafverfahren vorgeschrieben – nicht bei den russischen Behörden gemeldet haben. Russlands Strafvollzug schrieb ihn deshalb zur Fahndung aus. Dazu sagte Nawalny, dass sogar Putin öffentlich bekanntgab, dass der «Patient» in Deutschland sei. «Hören Sie etwa dem Präsidenten nicht zu?», fragte Nawalny vor Gericht.
Das Vorgehen gegen Nawalny hatte international Entsetzen ausgelöst. Russland lehnt Ermittlungen ab, weil es keine Hinweise auf eine Vergiftung sieht. Mehrere westliche Labors, darunter eines der deutschen Bundeswehr, hatten die Nowitschok-Spuren allerdings zweifelsfrei nachgewiesen. Die EU hat deshalb Sanktionen gegen ranghohe russische Funktionäre verhängt. Nawalnys Team fordert angesichts der Inhaftierung des Politikers weitere Sanktionen gegen Oligarchen und Funktionäre aus dem Umfeld Putins.
Russland wies die Kritik am Vorgehen gegen Nawalny erneut scharf zurück. Russland werde «Belehrungen» der EU nicht hinnehmen, sagte Kremlsprecher Dimitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Die Sprecherin des Aussenministeriums, Maria Sacharowa, kritisierte bei Facebook die Anwesenheit mehrerer Diplomaten bei dem umstrittenen Prozess gegen Nawalny als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands.
Baltenstaaten wenden sich an Europarat und OSZE
Estland, Lettland und Litauen haben sich wegen des Vorgehens russischer Sicherheitskräfte gegen Demonstranten und Journalisten an die internationale Gemeinschaft gewandt. In einem gemeinsamen Schreiben an die Vorsitzenden des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) riefen die drei Aussenminister der an Russland grenzenden EU- und Nato-Länder am Dienstag zu Druck auf Moskau auf.
«Wir hoffen, dass die OSZE und der Europarat unverzüglich handeln und alle möglichen Massnahmen ergreifen, um die Brutalität der Polizei gegen Demonstranten zu stoppen», wurde der litauische Aussenminister Gabrielius Landsbergis in einer Mitteilung zitiert. Auch sollten beide Organisationen die «Freilassung der willkürlich festgenommenen russischen Bürger einschliesslich von Nawalny» fordern.
Bei den landesweiten Demonstrationen für eine Freilassung Nawalnys gab es am Sonntag Menschenrechtlern zufolge mehr als 5100 Festnahmen – so viele wie noch nie in der jüngeren Geschichte Russlands. Menschenrechtler beklagten zudem ein «unverhältnismässig brutales Vorgehen» der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten.
sda/afp/red
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