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Rückständige Verfassung nicht revidiert
Regierung in Dublin blamiert sich – und mit ihr ganz Irland

epa11071727 Ireland's Prime Minister (Taoiseach) Leo Varadkar speaks during a joint press conference with his North Macedonian counterpart Dimitar Kovacevski (not pictured) in Skopje, North Macedonia, 12 January 2024. Irish Prime Minister Varadkar arrived for a one day official visit to North Macedonia.  EPA/GEORGI LICOVSKI

In einem Doppelreferendum war die irische Bevölkerung am Freitag aufgefordert worden, den von der Verfassung benutzten engen Begriff der Familie erstmals flexibler zu gestalten und alte Stereotypen betreffs der Rolle der Frau in der irischen Gesellschaft abzuschaffen. Aber mit mehr als zwei Dritteln der Stimmen wurden beide Reformvorschläge abgelehnt.

Für die bäuerlich-bürgerlichen Parteien Fine Gael und Fianna Fáil und die irischen Grünen, die gemeinsam die Regierung bilden, war das Abstimmungsresultat ein herber politischer Schlag. Irlands Taoiseach (Regierungschef) Leo Varadkar hatte vor der Abstimmung noch erklärt, er wolle der Welt zeigen, «wofür wir als Gesellschaft stehen».

Beabsichtigt hatte Varadkars Regierung, zwei antiquierte Artikel der Verfassung irischen Realitäten anzupassen. Zum einen sollte der Begriff der Familie wesentlich weiter ausgelegt werden als bisher.

40 Prozent der Kinder «unehelich» geboren

Bis heute garantiert die irische Verfassung nämlich nur verheirateten Paaren rechtlichen Rückhalt. Heutzutage, fand Varadkar, sei es aber nötig, auch Unverheiratete, die «in festen Beziehungen» lebten, in aller Form als Familienverbände anzuerkennen. Und das schliesse alleinerziehende Elternteile oder erziehungsberechtigte Grosseltern ein: Immerhin werden, wie die irische Law Society jüngst meldete, heute schon 40 Prozent aller Kinder in Irland «unehelich» geboren.

Noch wichtiger fand es die Regierung, in einem zweiten Referendum einen anderen Verfassungsartikel aus der Gründerzeit der Republik endlich zu begraben. Darin findet bis heute die Überzeugung Ausdruck, dass der Platz einer Frau an Heim und Herd zu sein hat – und nicht «draussen» in der Welt.

Schon 1937 gab es Proteste

Nur «durch ihr Leben daheim» lasse eine Frau «dem Staat die Unterstützung zukommen, ohne die es kein Gemeinwohl geben kann», heisst es an dieser Verfassungsstelle. Der Staat müsse darum «sicherstellen, dass Mütter nicht durch wirtschaftliche Notwendigkeit gezwungen sind, sich auf dem Arbeitsmarkt zu verdingen, auf Kosten einer Vernachlässigung ihrer häuslichen Pflicht».

Tatsächlich hatte diese Rollenfixierung schon 1937, als Éamon De Valera und seine Mitstreiter die Verfassung für ein unabhängiges Irland entwarfen, heftige Proteste ausgelöst unter Gleichberechtigungskämpferinnen. Die Suffragette Hanna Sheehy Skeffington sprach damals von einem geradezu «faschistischen Modell, das Frauen zu permanenter Unterordnung verurteilt».

Lange Jahre hindurch fanden sich Irinnen denn auch benachteiligt und am beruflichen Fortkommen gehindert. Erst mit dem Schwinden des Einflusses der katholischen Kirche Irlands und mit anderen sozialen Umbrüchen begann sich das zu ändern.

Verbot der Ehescheidung aufgehoben

In den letzten Jahrzehnten dokumentierte sich der Wandel unter anderem in der Aufhebung des Verbots der Ehescheidung und der Abtreibung auf der Insel und in der Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Immer wieder wurde die Verfassung per Volksabstimmung neu angepasst.

'No' campaigners celebrate at Dublin Castle as the result is announced in the first of the twin referendums to change the Constitution on family and care, in Dublin, Saturday March 9, 2024. Irish Prime Minister Leo Varadkar has conceded defeat in the vote over two constitutional amendments that would have broadened the definition of family and removed language about a woman?s role at home. Vote tallies Saturday showed both referendums failing in a blow to his government. (Damien Storan/PA via AP)

Mittlerweile kann Irland darauf verweisen, dass es in seiner jüngsten Geschichte bereits zwei Präsidentinnen hatte, dass die alte Republikanerpartei Sinn Féin – gegenwärtig stimmenstärkste Partei im Norden wie im Süden der Insel – von zwei Frauen geführt wird und dass der Anteil der Frauen auf Direktorenposten in der Wirtschaft schneller zunimmt als im Schnitt der EU.

Dass die von der Verfassung hervorgehobene Pflicht zur Sorge für Familienangehörige dabei eine familiäre Angelegenheit bleiben sollte, löste allerdings auch unter Reformern Unmut aus. Die linkssoziale Sinn-Féin-Vorsitzende Mary Lou McDonald zögerte lang damit, ob sie zu einem Ja-Votum aufrufen sollte. Lieber hätte sie auf dem Stimmzettel den Text gesehen, den schon vor drei Jahren eine zu diesem Zweck einberufene Bürgerversammlung entworfen hatte, sagte sie.

Höchster Nein-Anteil bei einer irischen Volksabstimmung

In deren Entwurf war ausdrücklich von Gleichberechtigung und vom Ende aller Diskriminierung die Rede gewesen – und davon, dass nicht nur die Familie, sondern natürlich auch der Staat zu entsprechender Fürsorge verpflichtet sei.

Insgesamt zeigten sich im Vorfeld des Doppelreferendums viele Iren und Irinnen unsicher darüber, wofür sie stimmen und ob sie überhaupt an die Urnen gehen sollten. Am Ende lehnten die meisten derer, die in die Abstimmungslokale kamen, die neuen Vorlagen ab – nach eigenem Bekunden in der Regel nicht, um die Reform zu stoppen, sondern weil ihnen das Reformangebot selbst nicht gefiel.

Das Familienreferendum wurde so mit 67 Prozent der Stimmen abgelehnt und das Fürsorgereferendum sogar mit 74 Prozent der Stimmen. Es war der höchste Anteil an Nein-Stimmen bei einer irischen Volksabstimmung überhaupt.

Irische Beobachter fanden, dass die Regierung eine im Grunde simple und lang überfällige Anpassung der Verfassung schlicht «vermasselt» habe. Wenn Leo Varadkar jetzt zur jährlichen St.-Patricks-Zusammenkunft nach Washington reise, meinte ein Kommentator, tue er das «mit Ohren, die so rot sind, wie der Shamrock grün ist», den er Joe Biden überreichen will.