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Affäre spitzt sich zu
RTS hat ein gravierendes Sexismus-Problem

RTS-Mitarbeiterinnen demonstrieren im November 2020 gegen den Alltagssexismus in ihrem Unternehmen. 
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Rassismus, unerwünschte Küsse, Anfassen von Brüsten, Berührungen am Gesäss, Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung, Arbeitsüberlastung, Beleidigungen gegen Schwangere, Festhalten in einem Raum: Die Missstände beim Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS) sind weit komplexer, vielfältiger und gravierender als bislang bekannt. Das zeigt sich nach einer mehrmonatigen Untersuchung von sexuellen Übergriffen und Mobbing im Medienhaus. Drei Anwältinnen und ein Anwalt des Genfer Anwaltsbüros Collectif de Défense haben der RTS-Belegschaft am Donnerstagmorgen die Resultate ihrer Arbeit präsentiert.

Diese Zeitung hat Kenntnis vom Inhalt der Präsentation und vom anschliessenden Austausch mit RTS-Mitarbeitern und Direktor Pascal Crittin. Die Arbeitsrechtsexpertinnen bezeichneten Mobbing und Übergriffe bei RTS als «systemisch». Sie betonten, die untersuchten und ungeahndet gebliebenen Missstände hätten über einen Zeitraum von 20 Jahren stattgefunden. Bei RTS habe ein «Gesetz des Schweigens» geherrscht. Die Probleme ermöglicht und akzentuiert habe die zunehmende Hierarchisierung des Medienunternehmens, für die der ehemalige RTS-Chef und heutige SRG-Generaldirektor Gilles Marchand die Verantwortung trage.

In der Causa Marchand war der SRG-Verwaltungsrat noch im April zu einem anderen Schluss gekommen. Nach einem Zwischenbericht über die Untersuchung allfälliger Verantwortlichkeiten von RTS-Kader schrieb der SRG-VR von einer «sekundären Aufsichtsverantwortung» Marchands, bei deren Ausübung er keinen «gravierenden Fehler» beging.

«Das Privat- und Berufsleben wurde ständig vermischt, und die Persönlichkeitsrechte Einzelner wurden verletzt.»

Anwältin des Genfer Anwaltsbüros Collectif de Défense

Das Anwältinnenkollektiv sieht das anders. Gemäss ihrer Untersuchungen sind fehlbare Kadermitarbeiter von Vorgesetzten geschützt worden. Andere Kader hätten Vorfälle, die ihnen von Mitarbeitern geschildert wurden, in der Hierarchie nicht nach oben weitergereicht. «Angestellte wurden nicht angehört; es gab keine Sensibilitäten für ihre Leiden; Privat- und Berufsleben wurden ständig vermischt, und die Persönlichkeitsrechte Einzelner wurden verletzt», kritisierte eine Anwältin die RTS-Spitze. Auch die Personalabteilung habe sich für den Leidensdruck ihrer Mitarbeitenden nicht interessiert. In dieser Situation hätten sich Betroffene von Mobbing und sexuellen Übergriffen nicht mehr zu äussern getraut. So sei bei der RTS «ein fruchtbarer Boden für ein feindseliges Arbeitsklima» entstanden.

Mitarbeiter suspendiert

Die Informationsveranstaltung war hochemotional. Einzelne Mitarbeiterinnen begannen in der nachfolgenden Fragerunde zu weinen und sprachen angesichts der Befunde von einem «absoluten Skandal», während ihre Kollegen die Fakten als «niederschmetternd» bezeichneten oder sich bei den Anwältinnen für die «unglaubliche Arbeit» bedankten. Den Bericht als solchen werden die Mitarbeiter nicht bekommen, weil er Namen von Zeugen und Angeschuldigten enthält.

RTS hat am Donnerstag bekannt gegeben, zwei Mitarbeiter suspendiert und Untersuchungen eröffnet zu haben. Fünf weitere Mitarbeiter seien zu Gesprächen eingeladen worden, um mit ihnen über das Arbeitsklima auf ihren Abteilungen zu sprechen.

Nach der Präsentation neuer Fakten könnte auch die Verantwortung von SRG-Generaldirektor Marchand nochmals geprüft werden. «Das Material der Untersuchung ist bereit. Die RTS kann es haben», sagte eine Anwältin. Die RTS-Direktion entscheide, was damit passiere. Letztere könne den Bericht auch schubladisieren, so die Anwältin. Sie und ihre Kolleginnen empfehlen jedoch, aufgrund der neuen Befunde die Verantwortlichkeiten von acht Kadern nochmals zu prüfen. RTS-Direktor Pascal Crittin sagte am Donnerstag, die SRG sei allenfalls bereits, bezüglich Marchand nochmals Abklärungen zu machen – vorausgesetzt, es gebe «gesicherte Fakten», die dies verlangen würden.

Die RTS-Affäre ans Licht gebracht hat die Zeitung «Le Temps» im letzten Herbst. RTS hat das Anwaltsbüro Collectif de Défense daraufhin mit einer umfassenden Untersuchung beauftragt. 230 Zeuginnen und Zeugen, also mehr als ein Zehntel der RTS-Belegschaft, haben sich beim Anwaltsbüro gemeldet und für den Bericht ausgesagt. Ihre Aussagen unterschrieben sie nach einer nochmaligen Lektüre im April. In diversen Fällen hätten Zeuginnen dieselben Fakten oder Verhalten geschildert, sich gegenseitig aber nicht gekannt, sagte eine der untersuchenden Anwältinnen.