Marco Odermatt und Loïc MeillardZwei Genies – aber eines zaubert häufiger
Odermatt steht über Meillard, es ist das gewohnte Bild. Das Schlitzohr schlägt den Perfektionisten. Und es stellt sich die Frage: Wird der eine für den anderen doch noch zur Gefahr?

Der Nidwaldner hat gewonnen in Adelboden, wieder einmal, im zweiten Lauf fängt er Loïc Meillard doch noch ab. Er wirkt verlegen, jubelt zunächst verhalten, dann umarmt er seinen Teamkollegen, erst zögerlich, dann doch noch innig. Die Hierarchie ist, wie sie eben ist zwischen den beiden: Odermatt vor Meillard, Seriensieger vor Podestplatz-Sammler, Überfigur vor Spitzenathlet. Ausfälle ausgenommen, hat Meillard seinen Landsmann in einem Riesenslalom letztmals vor vier Jahren geschlagen – in Adelboden.
Der heilige Gral des Skisports
König vor Thronfolger, so fasst es ein österreichischer Journalist im Berner Oberland zusammen. Es ist eine Fehlinterpretation, müssten die beiden hierfür doch aus unterschiedlichen Skifahrergenerationen stammen. Doch Odermatt und Meillard gehören zur gleichen Ära, beide prägen diese, einfach in unterschiedlichem Ausmass. Kjetil Jansrud, 2014 Olympiasieger im Super-G und heute TV-Experte, sagt, Meillards Technik sei perfekt, vielleicht fast zu perfekt. «Odermatt fährt weniger nach Lehrbuch, aber während einer Kurve bringt er die Energie permanent nach vorne. Das kann sonst keiner. Und das kann man wohl auch gar nicht trainieren.»
Jansruds einstiger Konkurrent Ivica Kostelic, der 2011 den Gesamtweltcup gewann, resümiert derweil: «Es gibt kräftige Fahrer und solche mit viel Gefühl. Odermatt hat beides. Das ist, als hätte er den heiligen Gral des Skisports gefunden. Er ist wahrlich ein Glückskind.»

42 Rennen hat Odermatt für sich entschieden, bei Meillard sind es vier. Letzten Winter belegten sie im Gesamtweltcup die Ränge 1 und 2, so war es auch 2023 im WM-Riesenslalom gewesen. In Adelboden ist Meillard also wieder einmal der Schattenmann im Sonnenschein, es erinnert an die Zeiten von Roger Federer und Stan Wawrinka, wobei die Ski-Schweiz die Leistungen des Romands trotz der weitaus grösseren Erfolge des Konkurrenten je länger, je mehr richtig einzuschätzen und vor allem zu würdigen weiss.
Kostelic sagt, auch Meillard sei ein Siegertyp, «da besteht kein Zweifel. Aber Odermatt hat dieses unerschütterliche Selbstvertrauen – er erinnert mich an meine Schwester Janica. Bei ihr war es so: Wollte sie unbedingt gewinnen, dann tat sie das auch. Bei Marco scheint es ähnlich zu sein. Und mit jedem Erfolg wird der Glaube an die eigenen Fähigkeiten noch stärker.»
Der Wechsel als eine Art Flucht
Odermatt gegen Meillard sei ein faszinierender Kampf, sagt der Kroate. Duelle hat es immer gegeben im Skisport; der Unterlegene kann daran wachsen, oder es kann ihn zermürben, geschehen etwa bei Henrik Kristoffersen, den die Dominanz Marcel Hirschers irgendwann zu lähmen schien. Meillard dürfe nicht zu viel an Odermatt denken, sagt Kostelic, «es ist sicher wichtig, hat er den Slalom, in dem nur er startet». Es hiess einst, Odermatts fulminanter Siegeszug sei nicht spurlos am Walliser vorbeigegangen, womöglich war der Umstieg von der Riesenslalom- in die Slalom-Trainingsgruppe der Wechsel, den es brauchte. Eine Art Flucht in bessere Zeiten.
Die Wege von Odermatt und Meillard kreuzten sich früh, der eine mit Jahrgang 1997, der andere 1996, ihre Debüts im Weltcup folgten 2016 respektive 2015. Sie mögen nicht die engsten Freunde sein, aber sie verstehen sich. Meillard ist der Perfektionist, der kaum von seinem Plan abweicht, der enorm harte Arbeiter, der sich wohl eher zu viele statt zu wenige Gedanken macht. Odermatt wiederum ist das unkomplizierte Schlitzohr, der Draufgänger und Instinktskifahrer. Meillard sagte einmal gegenüber der «Aargauer Zeitung», Odermatt habe diese wilde Seite, die er nicht habe. Und: «Vielleicht bin ich technisch besser. Aber im Skischule-Style hat noch keiner ein Rennen gewonnen.»
Im Gesamtweltcup führt Odermatt vor Meillard, dazwischen liegen Henrik Kristoffersen und vor allem 256 Punkte. Der 28-Jährige ist kein Glückskind, wie Odermatt offenbar eines ist, letzte Saison raubte ihm die neue Bindung viel Selbstvertrauen, weil sie sich in den unpassendsten Momenten öffnete, nun plagt ihn der Rücken – umso verblüffender sind seine Leistungen. Im Kampf um die grosse Kristallkugel könne Meillard aber irgendwann zur ernsthaften Gefahr werden für seinen Landsmann, sagt Kostelic, was auch ZDF-Experte Marco Büchel glaubt. «In Ermangelung weiterer Gegner sehe ich da nur Loïc.»
Der Zielhang als Sinnbild
Büchel, 1999 Vizeweltmeister im Riesenslalom, bezeichnet die zwei Schweizer als Genies. «Beide zaubern, aber Odermatt zaubert häufiger.» Und um beim Beispiel des Zauberers zu bleiben: «Meillard ist der Zauberer, der seine Kartentricks über Wochen einstudiert, Odermatt kommt zur Vorstellung und macht vieles intuitiv.»
Meillard setze viel stärker auf Kontrolle, Odermatt lasse es geschehen, sagt der Liechtensteiner. Der Adelbodner Zielhang steht wohl sinnbildlich dafür: Meillard meistert diesen ohne den kleinsten Wackler, Odermatt riskiert Kopf und Kragen – und sorgt für die Differenz.
Büchel sagt: «Das war magisch.»
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