Schweizer Stiftung finanziert Projekt 100 Millionen für die Recycling-Revolution
Forscher wollen Plastik in Bestandteile zerlegen und neue Kunststoffe herstellen. Die Werner-Siemens-Stiftung fördert den «Jahrhundertplan».
Kunststoff hat die Welt verändert. Plastikfolien schützen Lebensmittel, Mikroplastik optimiert Kosmetika, Kunststoff formt Auto- und Flugzeugsitze, dämmt Häuser, schützt sie vor Flammen und so fort. Mehr als 8 Milliarden Tonnen Kunststoff, so schätzen Fachleute, hat die Industrie seit Mitte des 20. Jahrhunderts hergestellt. Ein Siegeszug der Kunststoffindustrie.
Doch nun ist alles anders. Millionen Tonnen Plastik reichern sich jährlich in der Umwelt an, gefährlich für die Tiere und für den Menschen. Sogar in der menschlichen Plazenta entdeckten Forschende Spuren von Polyethylen (PE), wie sie kürzlich in «Toxicological Sciences» berichten. Die Herstellung und Entsorgung von Kunststoff ist jährlich für CO2-Emissionen verantwortlich, die dem Ausstoss von 800 Kohlekraftwerken entsprechen.
Die Kunststoffproduktion aus Erdöl und Erdgas passt nicht ins Bild einer Welt, die gemäss Pariser Klimavertrag ab Mitte dieses Jahrhunderts klimaneutral sein soll – und ressourcenschonend. «Wir müssen die Industrie komplett umbauen», sagt Regina Palkovits von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen. Die Chemieingenieurin leitet zusammen mit Jürgen Klankermayer ein «Jahrhundertprojekt», das die Werner-Siemens-Stiftung mit Sitz in Zug zu ihrem hundertjährigen Bestehen mit 100 Millionen Franken über zehn Jahre fördert.
Gesamten Plastikmüll wiederverwerten
Die Vision der Aachener Forschenden: Das gesamte Sortiment an Plastikmüll soll möglichst zu nachhaltigem Kunststoff wiederverwertet werden. Aus dem verteufelten Plastik, so der Plan, wird wieder ein mannigfaltig verwendbarer Wertstoff. «Es macht keinen Sinn, Plastikmüll zu entsorgen, weil in Kunststoffprodukten bereits viel Energie und wertvolle Syntheseleistungen stecken», sagt Regina Palkovits. Mit anderen Worten: In diesen vermeintlich ausgedienten chemischen Syntheseprodukten aus unterschiedlich langen und komplizierten Kohlenstoffketten stecken Rohstoffe, die für neue Kunststoffarten wieder verwendet werden sollen.
Nur etwa 9 Prozent des Kunststoffabfalls weltweit werden heute rezykliert, während sich die jährliche Produktionsmenge seit 2000 fast verdoppelt hat. Der grosse Rest wird deponiert oder verbrannt. Der Grund: Die Materialien sind bisher nur beschränkt rezyklierbar. Denn Kunststoffe sind eine komplizierte und vielfältige Stoffklasse, deren chemische Struktur sich stark unterscheidet. So gibt es über 200 Kunststoffklassen auf dem Markt.
Die Aachener Forscher haben nun Grosses vor: Das Ziel ihres Projekts Catalaix ist unter anderem, chemische oder biologische Katalysatoren für Recyclingverfahren zu suchen, um mit deren Hilfe möglichst viele Kunststoffabfälle chemisch in ihre Bausteine zu trennen. Letztere sollen dann wiederum für die Produktion neuer und nachhaltiger Kunststoffe eingesetzt werden. Katalysatoren sind spezifische Stoffe, die chemische Reaktionen beschleunigen. «Bisher lag der Schwerpunkt der Katalyseforschung darin, Kunststoffe zu bauen, nun soll sie Bausteine für neuen Kunststoff liefern», sagt Palkovits.
Nicht mehr verbrennen
Das heisst konkret: In Zukunft soll es nicht nur ein eindimensionales Recycling geben, wie zum Beispiel die Wiederherstellung einer PET-Flasche aus einer gebrauchten PET-Flasche. «Dieser eindimensionale Kreislauf muss durchbrochen werden», sagt Palkovits. In einem Kunststoffprodukt stecken Rohstoffe, die für die Herstellung anderer, nachhaltigerer Stoffe verwendet werden könnten. Die Forschenden nennen das: mehrdimensionaler Kreislauf.
Da ist zum Beispiel die Schweiz noch weit davon entfernt: Jährlich entstehen rund 780’000 Tonnen Kunststoffabfälle, wie Zahlen des Bundesamts für Umwelt zeigen. Davon werden über 80 Prozent in Kehrichtverbrennungsanlagen und gut 6 Prozent in Zementwerken energetisch verwertet. «In der Gesellschaft ist jedes Produkt am Ende des Lebenszyklus, also unser Müll, als wertvoller Rohstoff für die nächste Produktgeneration zu verstehen», sagt die Aachener Forscherin.
Dazu ein Beispiel aus dem Labor der RWTH Aachen, das gut zur aktuellen Kunststoff-Diskussion in der Schweiz passt. Wir rezyklieren in grossem Stil PET-Flaschen, doch andere Kunststoffe wie etwa Polyethylen (PE) werden hierzulande vielerorts noch nicht gesammelt, sie werden mit dem Abfall verbrannt. Dabei wird PE weltweit am meisten hergestellt und verwendet. Einer Forschungsgruppe der RWTH Aachen ist es nun gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, das aus Polyethylenabfällen Bausteine herstellt, mit denen sich andere nachhaltige Kunststoffe erzeugen lassen.
So entsteht aus dem nicht abbaubaren Polyethylen ein Kunststoff aus biologisch abbaubarer Polymilchsäure (PLA). Aus PLA lassen sich Verpackungen, Dosen oder Flaschen herstellen. Oder es werden daraus Abdeckfolien für die Landwirtschaft produziert, die nach dem Einsatz untergepflügt werden können, weil sie sich im Gegensatz zu PE biologisch abbauen. Chirurgen verwenden Nahtmaterial aus PLA, weil der menschliche Körper es abbaut.
«Kunststoffe weisen unterschiedliche Anforderungen auf, sie sind nur kurzlebig in Verpackungsmaterial, verbleiben in Dämmmaterialien aber während Jahrzehnten, zudem unterscheiden sie sich auch mengenmässig», sagt die Aachener Chemieingenieurin Regina Palkovits. Nur das System des mehrdimensionalen Recyclings garantiere eine ganzheitliche und effiziente Kreislaufwirtschaft.
Werkzeugkasten für neuen Kunststoff
Praktisch heisst das: Die aus dem Kunststoffabfall extrahierten Bausteine bilden nach dem Aachener Prinzip eine Art Werkzeugkasten, mit dem massgeschneidert, je nach Nachfrage, neue Kunststoffe hergestellt werden können. Damit verfolgen sie einen anderen Ansatz als die meisten Forschungsinstitute weltweit. Bisher stand nicht das Recycling im Zentrum, sondern die Suche nach Alternativen zum Kunststoff. Das EU-Projekt Glopack zum Beispiel sucht nach Verfahren, um Obst-, Mais- oder Weizenstroh als Rohstoff für Biokunststofffolien zu verwenden. Auch Laub, Gras, Pilze oder Algen könnten künftig als Basis dienen.
Die Aachener Forschenden stellen eine weitere Anforderung an die künftigen Katalysatoren. Sie müssen je nachdem auch bei der Trennung verunreinigter Kunststoffe funktionieren. Es gibt mehr als 13’000 Zusatzstoffe wie Weichmacher, Stabilisatoren, Farb- oder Füllstoffe, welche die Industrie je nach Anwendungszweck bei der Plastikproduktion zusetzt. Diese Stoffe erschweren das Recycling.
Auch hier können die Aachener Forschenden im Labor bereits erste Erfolge vorweisen. Sie stellten aus Buchenholzabfällen Lävulinsäure her, wobei ein Katalysator verwendet wurde, der gegenüber zahlreichen Verunreinigungen tolerant war. Aus Lävulinsäure liesse sich ein Kunststoff für die Pharmaindustrie produzieren, bei dessen Produktion wenig CO2 entsteht.
Noch stehen die Forschenden jedoch erst am Anfang. Bis zum industriellen Einsatz ist es noch ein weiter Weg. Das Catalaix-Projekt soll denn auch weitergehen: Das Know-how soll anderen Universitäten und auch der Industrie zur Verfügung stehen. «In der Industrie muss die Kreislaufführung fester Bestandteil und wichtiges Qualitätskriterium der Produktentwicklung werden», sagt Regina Palkovits.
Die Werner-Siemens-Stiftung ist überzeugt von der Vision der Aachener Forschenden. Sie hat das Projekt aus insgesamt 123 Bewerbungen als «bahnbrechende Idee» ausgewählt.
Wir haben uns in einer Serie dem Thema Abfall gewidmet. Hier finden Sie alle Beiträge.
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