Auswirkungen auf ZürichNach Racial Profiling-Urteil soll es Quittungen für Polizeikontrollen geben
Der Zürcher Stadtrat findet: Die Stadtpolizei habe ihre Lehren gezogen. Die Gründe für eine Polizeikontrolle werden heute in einer App erfasst. Der Linken geht das zu wenig weit.
Zum zweiten Mal innert kurzer Zeit äussert sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zur Zürcher Stadtpolizei. Zum zweiten Mal kommt diese dabei nicht so gut weg.
Ende 2023 rügte das Gericht aus Strassburg die Stadtpolizei für die Einkesselung von 1.-Mai-Demonstrierenden im Jahr 2011. Die zuständige Stadträtin Karin Rykart (Grüne) entschuldigte sich dafür.
Am Dienstag hat das EGMR Mohamed Wa Baile recht gegeben. Der heute 49-Jährige wurde im Februar 2015 im Zürcher Hauptbahnhof von Stadtpolizisten angehalten. Wa Baile weigerte sich, seinen Ausweis zu zeigen. Aus seiner Sicht kontrollierten ihn die Polizisten allein aufgrund seiner Hautfarbe. Der Fachbegriff dafür lautet Racial Profiling. Weil er sich weigerte, bekam Wa Baile eine Busse von 100 Franken.
Diese Strafe wollte er nicht akzeptieren. Mit Unterstützung von zwei Menschenrechtsorganisationen klagte er vor Gericht. Doch alle Schweizer Instanzen – das Bezirks- und das Obergericht Zürich sowie das Bundesgericht – sahen in der Identitätskontrolle kein Racial Profiling.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kommt nun in seinem fast 50 Seiten langen Urteil zu einem anderen Schluss: Die Schweizer Gerichte hätten die Frage der Diskriminierung nicht ausreichend geprüft. Wa Bailes Klage sei gut begründet.
Klarere Regeln für Kontrollen gefordert
Die Non-Profit-Organisation Allianz gegen Racial Profiling hat Wa Baile bei seinem Gang durch die Instanzen unterstützt. Gemäss ihrem Sprecher Tarek Naguib handelt es sich beim aktuellen Entscheid um eine Art Leiturteil, welches das EGMR besonders schnell gefällt habe. «Jetzt müssen die Schweizer Polizeikorps und die Politik auf verschiedenen Ebenen Massnahmen ergreifen, damit Racial Profiling nicht mehr vorkommt», sagt Naguib. So brauche es klarere Regeln für Personenkontrollen. In die Ausbildung und bei der Personalrekrutierung müsse das Thema ebenfalls stärker einfliessen.
Tarek Naguib erhofft sich ausserdem Auswirkungen auf die Schweizer Gerichte. «Der EGMR fordert sie klar auf, Racial-Profiling-Fälle sorgfältiger zu untersuchen.» Mangelnden Einsatz wirft die Allianz gegen Racial Profiling unter anderem etwa dem Zürcher Obergericht im Fall des herzkranken Wilson A. vor. Dieser wurde bei einer Polizeikontrolle im Jahr 2009 verletzt. Das Obergericht sprach den beschuldigten Polizisten letzte Woche frei.
Der juristische Kampf habe sich gelohnt, sagt Tarek Naguib. Das Urteil zeige allen Betroffenen: «Ihr müsst behördlichen Rassismus nicht einfach akzeptieren.»
Quittungen bei Kontrollen?
In Zürich hat der Fall politisch einiges ausgelöst. So fordert die links-grüne Mehrheit im Gemeinderat, dass die Stadtpolizei bei Personenkontrollen jeweils eine Quittung ausgibt. Dazu hat sie im November 2022 gleich zwei Vorstösse überwiesen, ein Postulat der SP sowie eine parlamentarische Initiative der AL. Auf solchen Quittungen würden der Anlass für die Kontrolle sowie alle Beteiligten vermerkt. «Quittungen sollen Polizistinnen und Polizisten bewusst machen, warum sie jemanden anhalten und durchsuchen», sagt Mit-Postulant Reis Luzhnica (SP). Dadurch würde auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei erhöht.
In den letzten Jahren gehe die Stadtpolizei aufmerksamer mit Fehlern bezüglich Racial Profiling um, sagt Luzhnica. «Aber ich glaube, dass das Problem weiterhin besteht.»
Dank dem Mittel der parlamentarischen Initiative kann der Gemeinderat nun selber eine entsprechende Verordnung schreiben. Gemäss Reis Luzhnica wird die zuständige Kommission die Beratung bald abschliessen.
Im Gemeinderat stimmten die bürgerlichen Parteien gegen die Quittungen. Sie befürchteten ein wirkungsloses «Bürokratiemonster» und warfen der Linken vor, der Polizei pauschal Rassismus zu unterstellen. Auch Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart stellte sich gegen die Forderung. Die Stadtpolizei habe bereits viel unternommen, sagte sie.
Stadtpolizei reagiert heute bei fehlbarem Verhalten
Dies betont das Sicherheitsdepartement auch in einer Pressemitteilung zum aktuellen EGMR-Urteil: Die Stadtpolizei habe bereits 2015 ein Projekt lanciert, um Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe zu minimieren. Die entsprechenden Massnahmen wurden 2017 umgesetzt. Seither müssen Stadtpolizisten kontrollierten Personen mündlich den Anlass dafür angeben. Die Voraussetzungen für Kontrollen seien in einer Dienstanweisung festgeschrieben. Das Bauchgefühl allein reiche nicht. Auf einer App erfasse die Stadtpolizei intern Ort, Zeit, Ursache und Folgen der Kontrolle. Zudem habe sie das Thema Rassismus in der Ausbildung vertieft sowie Übungen dazu eingeführt. «Und wenn wir fehlbares Verhalten feststellen, reagieren wir», schreibt das Sicherheitsdepartement. Das Urteil aus Strassburg werde man analysieren.
Unterstützung erhält die Stadtpolizei von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. In einer Mitteilung begrüsst sie das Urteil des EGMR. Bei der Stadtpolizei beobachte man aber «grösste Bemühungen zur Eindämmung von Racial Profiling».
Mohamed Wa Baile wollte sich am Dienstag gegenüber dieser Zeitung nicht weiter äussern. Vor Jahren sagte er, dass es im Prozess nicht um ihn selber gehe; sondern darum, dass Schwarze in der Schweiz künftig nicht mehr beweisen müssten, keine Drogenhändler zu sein.
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