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Oppositionelle Russin im Interview
«An diesem dreckigen Spiel werde ich nicht teilnehmen»

WASHINGTON, DC - FEBRUARY 28: Zhanna Nemtsova, daughter of Boris Nemtsov, testifies during a Commission On Security And Cooperation hearing to discuss the legacy of and justice for for slain Russian political opposition leader Boris Nemtsov, on Capitol Hill, February 28, 2018 in Washington, DC. A portion of Wisconsin Avenue across the street from the Russian Embassy in Washington has been renamed 'Boris Nemtsov Plaza,' in honor of the late Russian opposition leader and outspoken critic of Russian President Vladimir Putin. Nemstov was shot and killed in Moscow in February 2015.   Drew Angerer/Getty Images/AFP (Photo by Drew Angerer / GETTY IMAGES NORTH AMERICA / Getty Images via AFP)
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Am 8. Dezember erklärte Wladimir Putin in einer Inszenierung vor Offizieren im Kreml seine Kandidatur bei den Präsidentenwahlen im nächsten Frühjahr. Etwas überraschender als diese von allen erwartete Erklärung des diktatorisch herrschenden Putin war die Reaktion des gefangenen Oppositionellen Alexei Nawalny. Über das Team seiner Stiftung zur Bekämpfung der Korruption (FBK) forderte der zu 19 Jahren Straflager verurteilte Nawalny die russische Bevölkerung auf, an den Wahlen am 17. März 2024 teilzunehmen und für irgendeinen Kandidaten zu stimmen, der gegen Putin antrete. Gleichgültig, für welchen. Natürlich würden die Wahlen manipuliert werden, teilte Nawalny durch seine Vertrauten mit: Aber es könne doch klargemacht werden, «dass Russland keinen Putin mehr braucht».

Kurz nach dieser Erklärung brach der Kontakt zu Nawalny ab. Weder sein Team noch seine Anwälte wissen seither, wo er sich befindet.

Auch Schanna Nemzowa, die Tochter des 2015 mitten in Moskau ermordeten Oppositionsführers Boris Nemzow, sorgt sich um das Leben Nawalnys. Sie hält dessen Anti-Korruptions-Stiftung für die wichtigste oppositionelle Bewegung in Russland. Nawalnys Aufruf zum Wählen will sie allerdings nicht mittragen. 

Sie sind mit Alexei Nawalnys Aufruf, im kommenden März gegen Putin wählen zu gehen, nicht einverstanden?

Die meisten Oppositionskräfte in Russland und im Exil haben sich auf diese Taktik geeinigt. Aber ich persönlich werde die Wahlen boykottieren.

Warum?

Es gibt derzeit keine Politik in Russland. Es gibt keine Politikerinnen oder Politiker, die ich wählen könnte. Aus welchem Grund auch immer. Putin hat von den Wahlen in Belarus 2020 gelernt. Er wird keine Kandidaten zulassen, die auch nur eine Spur von Unabhängigkeit zeigen. Die Wahlen sind lediglich dazu da, die Macht Putins zu legitimieren. Es ist ein dreckiges Spiel, und ich möchte nicht teilnehmen. 

In Belarus musste der Diktatur Alexander Lukaschenko 2020 die Wahlen massiv fälschen und löste damit Bürgerproteste aus, die für kurze Zeit das Regime zum Wanken brachten.  

Lukaschenko liess damals eine unabhängige Kandidatin zu, weil er dachte, dass ihm eine Frau ohnehin nicht gefährlich werden könnte. Das war eine kurzzeitige Demokratisierung durch einen Irrtum. So etwas wird Putin nicht passieren.

epa11017429 Russian President Vladimir Putin (2-R) attends a ceremony to present Gold Star medals to Heroes of Russia on the eve of Heroes of the Fatherland Day at the St. George Hall of the Grand Kremlin Palace in Moscow, Russia, 08 December 2023. Russian President Vladimir Putin, at a meeting with Heroes of Russia in the Kremlin, said that he would run for the position of head of state in the upcoming elections in March 2024.  EPA/VALERIY SHARIFULIN / SPUTNIK / KREMLIN POOL MANDATORY CREDIT

Was erwarten Sie nach der Wahl?

Wir sollten uns auf das Schlimmste vorbereiten. Putin wird alles tun, um die Informationskanäle völlig unter seine Kontrolle zu bringen. Der populärste Nachrichtenkanal in Russland ist derzeit noch Youtube. Weil die Russinnen und Russen hier auch Nachrichten bekommen, die nicht vom Regime kontrolliert werden. Also wird Putin Youtube blockieren lassen.

Wird die russische Gesellschaft das akzeptieren?

Es ist eine zutiefst entpolitisierte Gesellschaft, ohne Hoffnung und ohne Träume. Aber mit sehr viel Angst.

Wirtschaftlich geht es dieser Gesellschaft aber offenbar immer noch recht gut.

Die Wirtschaft wächst, weil es eine Kriegswirtschaft ist. Und sie kann die westlichen Sanktionen umgehen. Russland bekommt sogar Raketenteile aus dem Westen.

Die Wirtschaft wächst, und die Menschen halten sich von der Politik fern – das klingt doch wie ein Bericht aus der Sowjetunion der 1970er-Jahre?

Nein, der Unterschied ist fundamental. Das gegenwärtige Regime ist viel robuster als jenes der UdSSR. Damals herrschte eine völlig ineffiziente Planwirtschaft. Heute haben wir eine Marktwirtschaft. Auch wenn diese von grossen staatlichen Unternehmen dominiert wird, können auch kleinere Unternehmer hohe Profite machen. Besonders jetzt, weil sie in jene Sparten vordringen, aus denen sich westliche Unternehmen zurückgezogen haben. Putins Regime ist auch viel anpassungsfähiger, als es die Sowjetunion je war.

Diese neuen Qualitäten nützen ausschliesslich dem Regime?

Nicht nur. Wir haben heute viel besseren Zugang zu Informationen. Putins Regime möchte intransparent sein. Aber es kann gar nicht verhindern, dass viele Daten öffentlich zugänglich sind.

Was könnte Putin bei dieser Wahl wirklich schaden?

Nichts. Er wird gewinnen.

Überraschungen sind ausgeschlossen?

Wir sprechen hier über einen schwarzen Schwan. Wir können es nicht ausschliessen, aber es ist sehr, sehr unwahrscheinlich. Ich verstehe, dass die Menschen Hoffnung haben wollen. Aber wir müssen realistisch bleiben. Wir müssen uns auf ein russisches Regime unter Putin für die nächsten 5 bis 10 Jahre einstellen. Der Krieg gegen die Ukraine wird weitergehen, und weil Putin immer mehr Menschen für diesen Krieg braucht, wird eine neue Mobilisierungswelle kommen. Denn es gibt nicht genügend Vertragssoldaten oder ehemalige Häftlinge für die Rotationen an der Front.

Braucht Putin einen Krieg ohne Ende?

Der Krieg gegen die Ukraine wird 2024 andauern und vermutlich auch 2025. Für Putin gibt es keinen Grund, ihn zu beenden. Er kann mehr Repressionen im eigenen Land durchsetzen, er kann für wirtschaftliche Probleme in Russland immer die angebliche Aggression des Westens verantwortlich machen. Er wird den Krieg erst beenden, wenn er einen Schlag ins Gesicht bekommt. Ich meine das natürlich bildlich: Es muss sichergestellt werden, dass die Sanktionen umgesetzt werden. Und die militärische und humanitäre Unterstützung der Ukraine muss fortgesetzt werden.

Diese Sanktionen gibt es doch schon?

Aber sie werden nicht durchgesetzt. Russische Unternehmen und der russische Staat können sie umgehen. Etliche Personen, auch in Europa, profitieren sogar von diesen Umgehungen. Es genügt nicht, Sanktionen zu verhängen. Der Westen muss endlich handeln und diese auch wirklich durchsetzen.

Sehen Sie das auch als Ihre Aufgabe, den Westen darauf aufmerksam zu machen?

Ich sehe es als meine Aufgabe, eine neue Generation von Führungskräften für Russland zu schulen. Was die politische Kultur betrifft, ist Russland kein europäisches Land. Für einen echten Wandel dieser Kultur brauchen wir Tausende Menschen mit einer soliden Ausbildung, die demokratische Institutionen aufbauen und auch für deren Nachhaltigkeit sorgen können.

Wie soll das gelingen?

Putin wird noch länger an der Macht bleiben. Also ist das Einzige, was uns bleibt: die Zeit. Wir haben Zeit und müssen diese nutzen, um jene Menschen, die vor Putin ins Exil flohen, auszubilden. Das ist das Ziel der Stiftung Boris Nemzow, die ich leite: Sie sorgt dafür, dass das politische Erbe meines Vaters an die nächsten Generationen weitergegeben wird.

Sie haben gerade erst ein Buch geschrieben mit dem Titel «Die Tochter ihres Vaters». Wollen Sie wie Boris Nemzow in die Politik einsteigen?  

Wir haben im Moment keine Politik in Russland, als könnte ich nirgends einsteigen. Ich träume von Plänen, die ich realisieren kann. Der Einstieg in die Politik gehört da nicht dazu. Putin denkt, er ist der Einzige, der fähig wäre, das Land zu führen. Aber in Russland leben 143 Millionen Menschen. Darunter sind viele, die gute Politik machen könnten. Irgendwann werden wir sie alle brauchen. Nicht nur in der Hauptstadt Moskau, auch in den Regionen.

Eine Frau an der Spitze des Staates wäre im männlich dominierten Russland aber undenkbar?

Dem stimme ich nicht zu. Wir haben sehr fähige Frauen, auch in der Politik. Frauen spielen die wichtigsten Rollen in der Bewegung gegen den Krieg. Oder auch in Alexei Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung.

FILE - Russian opposition leader Alexei Navalny is seen on a TV screen as he appears in a video link provided by the Russian Federal Penitentiary Service from the colony in Melekhovo, Vladimir region, during a hearing at the Russian Supreme Court in Moscow, Russia, on June 22, 2023. The Kremlin on Tuesday Dec. 12, 2023 bristled at the U.S. voicing concern about Navalny who has vanished from his prison colony, denouncing it as “inadmissible interference” in the country's domestic affairs. Worries about Navalny, who has been serving a 19-year term on charges of extremism in a penal colony in western Russia spread Monday after prison officials said he was no longer on the inmate roster, possibly indicating his transfer to another penitentiary. (AP Photo/Alexander Zemlianichenko, File)

Nawalnys Bewegung wird doch eher im Westen wahrgenommen als in Russland?

Überhaupt nicht. Seine Enthüllungsvideos über Reichtum und Korruption im System Putin sind extrem populär. Als einzige Oppositionskraft in Russland konnte die Stiftung ein Netzwerk von Büros im ganzen Land aufbauen. Unlängst lancierten sie eine Plakatkampagne mit dem Wort «Russland» und einem QR-Code. Wenn man den scannt, kommt man auf die Website der Kampagne gegen Putin. Die Bewegung ist zwar verboten, arbeitet aber immer noch im ganzen Land.

Von Nawalny selbst gibt es seit einiger Zeit kein Lebenszeichen mehr. Sorgen Sie sich um ihn?

Ich bin sehr besorgt. Alexei Nawalny konnte auch aus dem Gefängnis heraus erheblichen Einfluss auf den politischen Diskurs ausüben, indem er Briefe über seine Anwälte übermittelte. Jetzt wissen wir schon über zehn Tage nicht, wo er sich befindet. Ich glaube, dass er in eine Kolonie in einer abgelegenen Region Russlands verlegt worden ist, um ihn von seinen Anwälten und letztendlich von der Gesellschaft zu isolieren. Ich hoffe sehr, dass ihm nicht noch Schlimmeres zustossen wird.