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Russland verbietet LGBTQ-Bewegung
Eine ganze Minderheit wird wegen ihrer Sexualität kriminalisiert

FILE - Gay rights activists carry rainbow flags as they march during a May Day rally in St. Petersburg, Russia, Wednesday, May 1, 2013. Russia?s Supreme Court on Thursday, Nov. 30, 2023, effectively outlawed LGBTQ+ activism, in the most drastic step against advocates of gay, lesbian and transgender rights in the increasingly conservative country.  (AP Photo, File)
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Er sieht die Regenbogenflaggen verschwinden aus seinem sozialen Netzwerk. Freunde löschen Fotos aus Facebook und dem russischen VKontakte, lösen Gruppen auf, vernichten jeden Hinweis auf ihre sexuelle Orientierung. Alexei Sergejew, LGBTQ-Aktivist aus Sankt Petersburg, nennt es das «Löschen der Geschichte» seiner Gemeinschaft. Vielleicht wird es irgendwann so aussehen, als habe es in Russland nie homosexuelle oder nicht binäre oder Transmenschen gegeben.

Verbote und staatliche Hetze erschweren das Leben dieser Minderheit seit Jahren. Jetzt ist ein Verbot dazugekommen, das grundlegender und weitreichender ist als alle vorher: Russlands oberstes Gericht hat die «internationale LGBT-Bewegung» kürzlich für «extremistisch» erklärt – eine Organisation, die es in dieser Form gar nicht gibt. Jeder weiss, wen das Verbot treffen soll, nur mit welcher Wucht, das ist noch offen.

Protestbrief der Menschenrechtler

Das Ganze sei so absurd, als würde man plötzlich alle Rentner in Russland zu einer «öffentlichen Bewegung» erklären, schrieben Menschenrechtler in einem Protestbrief ans Gericht, aus dem «Meduza» zitiert. Mit dessen Entscheidung wurde quasi eine ganze Gesellschaftsgruppe aufgrund ihrer Sexualität kriminalisiert.

«Das ist das Ende», war auch Alexei Sergejews erster Gedanke. Er sitzt während des Videoanrufs bei Freunden im Badezimmer, um keinen zu stören. Der Aktivist lebt in Sankt Petersburg, seit Kriegsbeginn hätten mehr als die Hälfte seiner Bekannten Russland verlassen, sagt er, jetzt werden es noch mehr. «Wer kann, reist aus. Zumindest für einige Zeit.»

Denn keiner weiss, was das Verbot heisst, wer als Nächster eingesperrt wird und wofür. «Wir wissen nicht, ob die Regenbogenflagge jetzt als extremistisch gilt oder nicht», sagt er, aber: «höchstwahrscheinlich schon». Was ist mit dem pinkfarbenen Dreieck? Und den alten Fotos einer Gay-Pride-Veranstaltung in Sankt Petersburg? Alles noch riskanter als zuvor?

Polizei durchsuchte Clubs

Sogar die Polizei scheint nicht zu wissen, wie sie reagieren soll. Ein russischer Polizist kenne meist «nur zwei Worte in Bezug auf LGBT – Schwulenparade und Schwulenclub», sagt der Menschenrechtler Igor Kotschetkow im Videoanruf. Offenbar habe die Moskauer Polizei nach der Gerichtsentscheidung gedacht, sie müsse etwas unternehmen: Sie durchsuchte Clubs, angeblich nach Drogen, fotografierte Ausweise der Besucher, zwang sie, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu legen. «Die jagten allen grosse Angst ein», sagt Kotschetkow.

Seit dem Verbot gibt es fast täglich solche Meldungen: Eine Dating-App löschte die Option, die sexuelle Orientierung anzugeben. Ein Streamingdienst versah einen Teil der Kinderserie «My Little Pony» mit der Warnung: «ab 18». Schuld ist offenbar ein Pony namens Rainbow Dash.

In Sankt Petersburg musste einer der beliebtesten Schwulenclubs schliessen. Der Eigentümer wollte den Vertrag «wegen des Gesetzes» nicht verlängern, schrieben die Betreiber auf VKontakte, das wurde später gelöscht. Die Fälle zeigen die Verunsicherung und den vorauseilenden Gehorsam, der in Russland oft repressiv und vage formulierten Verboten folgt.

Plötzlich gab es echte Angeklagte

Die Richter mussten ihre Entscheidung im geheimen Verfahren nicht veröffentlichen, was die Folgen noch weniger greifbar macht. Mehrere Menschenrechtler beantragten vergeblich, beim Prozess in den Saal gelassen zu werden. Zwei Tage vor der Entscheidung gründeten fünf von ihnen eine Organisation namens «Internationale LGBT-Bewegung» – also genau unter dem Namen, den die Richter für ihr Verbot erfunden hatten. Plötzlich gab es also echte Angeklagte.

Igor Kotschetkow gehört zu den fünfen und erklärt beim Videoanruf aus dem sicheren Ausland die Gründe der Aktion: Sie hofften, als Beklagte nicht nur an Informationen aus dem Verfahren zu gelangen, sondern auch auf ihr Recht auf Verteidigung zu pochen. Und sie wollten zeigen, «dass dies ein fabrizierter Prozess ist», sagt Kotschetkow. Gegen das Urteil können sie nun trotzdem Berufung einlegen.

Hilfsgruppen ziehen ins Ausland

In Russland riskiert jeder Gefängnis, der in Verbindung zu einer «extremistischen» Gruppe steht. Zuletzt traf das vor allem Alexei Nawalnys Unterstützer. Alle Organisationen des Oppositionellen gelten seit 2021 als «extremistisch», frühere Mitstreiter wurden rückwirkend bestraft und eingesperrt. Gleichzeitig wird bis jetzt niemand dafür belangt, dass er Facebook oder Instagram nutzt – obwohl auch der Internetkonzern Meta in Russland als «extremistisch» gilt. Das Verbot gibt den Behörden grossen Spielraum, die Frage ist, wie sie ihn nutzen.

Russian Supreme Court judge Oleg Nefedov leads a hearing in the Russian Supreme Court in Moscow, Russia, Thursday, Nov. 30, 2023. Russia's Supreme Court on Thursday effectively outlawed LGBTQ+ activism, the most drastic step against advocates of gay, lesbian and transgender rights in the increasingly conservative country. The court sided with the Justice Ministry, which filed a lawsuit this month demanding an LGBTQ+ "movement" in Russia to be labeled extremist. Rights activists argue the move opens the way for a broad crackdown on any individuals or groups deemed to be part of this movement. (AP Photo/Alexander Zemlianichenko)

Er glaube leider nicht, «dass es im Fall von LGBT so sein wird wie bei Meta», sagt Kotschetkow, er rechne mit Musterprozessen gegen Aktivisten und Organisationen. Das Projekt Delo, das LGBTQ-Menschen mit juristischer Hilfe unterstützte, hat sich wegen des Verbots bereits aufgelöst. Sicher werden weitere Hilfsgruppen ins Ausland ziehen, die letzten Anlaufstellen für eine besonders verletzliche Gruppe aus Russland verschwinden. Vor allem Transmenschen, aber auch anderen aus der LGBTQ-Gemeinde fehlen in Russland oft das familiäre Netzwerk, ein sicheres Obdach, ein Job, finanzielle Mittel, auch zur Ausreise. «Sie werden sich ohne Hilfe wiederfinden», sagt Igor Kotschetkow. Heimliche Unterstützung zu organisieren, werde schwierig.

Die Hasstiraden der Propagandisten

Das Verbot wirkt bereits durch sein Drohpotenzial. Im Prinzip kann man nun wegen Finanzierung einer «extremistischen Organisation» eingesperrt werden, sobald man 100 Rubel, umgerechnet einen Franken, an eine LGBTQ-Gruppe spendet. Seit Jahren schon verbietet der Kreml sogenannte LGBTQ-Propaganda, öffentlich über die Rechte dieser Gruppe zu reden, ist gefährlich. «Wir sind in die entscheidende Phase des Kampfes um unsere traditionellen familiären, moralischen und religiösen Werte eingetreten», sagte Pjotr Tolstoi, Vizevorsitzender der Duma, als das Propagandaverbot 2022 verschärft wurde, Ergebnis könne «nur der Sieg» sein.

Die Hasstiraden der Propagandisten suggerieren, dass der Kreml neben dem Krieg in der Ukraine eine Schlacht im Inneren führe. «Er sagt, dass wir uns im Krieg mit dem Westen befinden, weil der Westen uns LGBT-Werte aufzwingt», sagt Kotschetkow, er zitiert Wladimir Putins ideologische Rechtfertigung für dessen Angriff auf die Ukraine.

Mit dem neuen Verbot punktet er bei konservativen, nationalistisch eingestellten Russen. Aktivist Sergejew rechnet mit ersten Schauprozessen noch vor der Präsidentschaftswahl im März, «damit die konservative Wählerschaft sieht, dass der Staat kämpft». Er möchte trotzdem in Sankt Petersburg bleiben, solange er kann.