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Meinung

Analyse zum Ukraine-Konflikt
Putin fühlt sich von der Ukraine bedroht – das russische Volk nicht 

Der Lebensstandard wird eher sinken statt steigen: Russinnen beim Schlittschuhlaufen auf dem Roten Platz in Moskau.
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Vor drei Wochen hat Wladimir Putin einen Besucher empfangen, der mit einer alarmierenden Botschaft in den Kreml kam. Sie war sogar so alarmierend, dass man sie als Bedrohung für Russland hätte auffassen müssen. Der Gast heisst Waleri Falkow und ist russischer Wissenschaftsminister. Er berichtete dem Präsidenten, dass es ausser in der Atom- und Rüstungsbranche immer weniger Arbeitsplätze für Hochqualifizierte gebe, und die Russische Akademie der Wissenschaften lieferte dazu erschreckende Zahlen: 70’000 «höchstqualifizierte» Forscher verlassen jedes Jahr Russland, gehen lieber in die USA, nach Europa, neuerdings auch nach China.

Wladimir Putin aber fühlt sich vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski bedroht, von unplausiblen angeblichen Überfallplänen aus Kiew, von Atomwaffen, die der Nachbar möglicherweise eines fernen Tages herstellen könnte. In dieser Diskrepanz liegt eine grosse Tragik.

Der Einzelne zählt wenig

Immer wieder mal hört man Russinnen und Russen schimpfen, dass der Staat alles zähle und der Einzelne wenig. Aber der Staat ist so gross, erstreckt sich über derartige Dimensionen, dass auch dessen Interessen sehr unterschiedlich sein können im Vergleich zu dem, was die Führung in Moskau will.

Die meisten Menschen in Russland, und das gilt sicher auch für viele Staatsbedienstete zwischen Kaliningrad und Magadan, fühlen sich von der Ukraine keineswegs bedroht; sie sähen es gern, wenn die heimische Wirtschaft aufblühte, wenn das Lebensniveau deutlich stiege, wenn sie landesweit ein stabiles, hohes Niveau an Spitälern, Schulen, Strassen und Universitäten erwarten könnten, egal wohin es sie gerade verschlägt.

Präsident Putin hat all dies immer wieder versprochen. Aber dies zu erreichen, dürfte künftig noch schwieriger werden. Denn der Kreml setzt andere Prioritäten. Er setzt auf aussenpolitische Triumphe, die offenbar viel von dem kaschieren sollen, was daheim nicht läuft.

Seltsam ist die Forderung von Aussenminister Sergei Lawrow, dass weitere Länder die Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken anerkennen.

Noch ist unklar, wie weit er bereit ist zu gehen und wie tiefgreifend die Reaktionen ausfallen würden. Der Lebensstandard aber wird so eher sinken statt steigen. Über solche Bedenken setzt sich der Kremlchef hinweg, den Preis dafür kalkuliert er ein. Und er dürfte hoch werden, sollte Russland wahr machen, womit Putin gedroht hat: So wie er Kiew als unfähiges, rechtsradikales und bedrohliches Marionettenregime dargestellt hat, dürfte die Anerkennung der Donbass-Gebiete nur ein Schritt sein auf dem Weg, Kontrolle über die ganze Ukraine zu erhalten.

70’000 «höchstqualifizierte» Forscher verlassen jedes Jahr Russland, doch Wladimir Putin fühlt sich vom ukrainischen Präsidenten bedroht.  

Aus seiner Logik folgerichtig und doch seltsam ist die Forderung von Aussenminister Sergei Lawrow, dass weitere Länder die Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkennen. Wer sollte das tun ausser dem weissrussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, der von Moskau abhängig ist? Das distanziert befreundete Kasachstan hat gleich gesagt, das stehe nicht auf der Tagesordnung.

Die Gefahr ist gross

Alarmiert sein müssen nun auch andere Staaten, Georgien etwa, das ebenfalls seit vielen Jahren auf seine Nato-Ambitionen gepocht hat, zuletzt allerdings eher still die Eskalationsschübe an den ukrainischen Grenzen verfolgt hat. Putins Genugtuung dürfte fürs Erste schon damit erreicht sein, dass er mit einem weiteren Bruch des Völkerrechts einen ganzen Kontinent in Schrecken versetzt hat. Vermutlich, aber nicht sicher, wird er jetzt erst mal innehalten, um zu sehen, was er in Verhandlungen mit den USA, Frankreich, Deutschland für sein Land herausholen kann. Aber die Gefahr ist gross, dass die Zeitspanne nicht allzu lang sein wird.

Das Problem: Das Minsker Abkommen ist nun erledigt, Russlands Forderungspaket an die USA aber noch auf dem Tisch. Moskau hat darin bewusst alles mit allem verschnürt, Rüstungsgespräche, den Abzug von US-Soldaten aus dem Baltikum, aus Zentral- und Osteuropa, den schriftlichen Verzicht der Nato auf eine Erweiterung. Und weit mehr als 100’000 russische Soldaten stehen noch immer an den ukrainischen Grenzen. Eine weitere Eskalation ist deshalb zu befürchten. Sicher ist nur, dass die russische Bevölkerung nicht gefragt wird.