Mamablog: Interview über Hilfe bei Autismus«Privatsphäre ist ein Privileg, das viele Behinderte nicht haben»
Eine Tochter von Journalist Daniel Bröckerhoff ist im Autismus-Spektrum, eine andere hat Muskelschwäche. Auf Instagram berichtet er über sein Leben – hier erzählt er davon.
Herr Bröckerhoff, Ihre Partnerin und Sie berichten auf Instagram recht offen über das Familienleben mit Ihren behinderten Kindern – warum machen Sie das?
Ich habe festgestellt, dass die breite Öffentlichkeit sehr wenig Berührung hat mit Autismus und noch viel Unwissen vorherrscht und es viele Vorurteile gibt. Mit meiner Arbeit möchte ich aufklären und zeigen, wie unser Leben mit einer autistischen Tochter so läuft. Denn es ist schon anders als ein Leben mit einem neurotypischen Kind. Der zweite Grund: Instagram gibt mir oft das Gefühl, nicht allein zu sein. Denn man fühlt sich häufig alleingelassen: von der Gesellschaft, von den Bürokraten, die darüber entscheiden, welchen Pflegegrad unser Kind hat und ob wir Hilfe bekommen oder nicht. Oder ob unsere Kinder in Einrichtungen aufgenommen werden. Da ist Vernetzung mit anderen Eltern und Angehörigen wichtig.
Welchen Content zeigen Sie bewusst nicht?
Es gibt auf Instagram auch den Hashtag #wasihrnichtseht. Da versuchen betroffene Familien, bewusst auch ein bisschen mehr von den unangenehmen Dingen zu zeigen. Wir zeigen aber nicht die Meltdowns unserer Tochter, wie schlecht es ihr geht und wie schlecht es uns geht. Wie wir rumbrüllen und uns gegenseitig anschreien. Und wie hilflos wir manchmal sind.
Als Followerin spüre ich Ihre Wut und Frust selten. Ich finde vielmehr, dass Ihr Content stark «empowernd» und auf Augenhöhe ist. Und das, obwohl wir gleichzeitig oft mitbekommen, wie krass Sie beide am Limit sind.
Und teilweise auch sehr gut darüber. Wir wollen aber die Gesellschaft nicht mit dem Baseballschläger verprügeln, weil sie uns nicht genug sieht und unterstützt. Als Journalist weiss ich: Sich nur zu beschweren, bringt nichts, das macht allen nur schlechte Laune. Deswegen versuche ich, die Leute aufzuklären und dabei auch ein bisschen zu unterhalten. Medizin wird immer besser mit Zucker gelutscht. Und ich freue mich sehr, dass es gut ankommt.
«Es kostet wahnsinnig Überwindung, jemand in den privaten Bereich reinzulassen.»
Was würden Sie Eltern raten, welche die Diagnose «Autismuskind» erhalten haben?
Sich sofort Hilfe holen. Das ist das Wichtigste und gleichzeitig auch das Schwierigste. Denn es ist ähnlich, wie jemandem mit einer Depression zu sagen: «Ja, seien Sie halt glücklicher.» Oder einem Übergewichtigen: «Dann essen sie halt weniger.» Ich kann nur raten: Sucht euch schnell einen Autismusverein, sucht euch Gruppen, wo Profis sitzen und euch erklären, wie ihr das wuppen könnt. Bei uns hat es rund drei Jahre gedauert, bis wir sagen konnten: Zu uns kommt jeden Tag ein Pflegedienst und macht uns zwei Stunden den Haushalt.
Warum dauerte das so lange?
Zuerst scheut man sich, zu sagen: «Ich brauch Hilfe.» Dann ist man oft zu erschöpft, um sich zu überlegen: «Hmm, wo krieg ich denn nun Hilfe her?» Und wenn man diese zwei Hürden überwunden hat, macht man immer wieder die Erfahrung, dass man abgewiesen wird. Weil die Pflegedienste immer überlastet sind und Bürokraten nicht kooperieren wollen und man sich ständig rechtfertigen muss. Hinzu kommt: Es kostet für viele Menschen wahnsinnig Überwindung, jemand in den privaten Bereich reinzulassen. Der «Fremde» könnte ja dein Elend sehen, sehen in welchem Chaos du vor dich hinvegetierst, weil du es einfach nicht schaffst.
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Also spielt da auch Angst vor Vorurteilen mit?
Ja, man hat Angst, als derjenige dazustehen, der es nicht auf die Kette kriegt. Und manchmal will man die Pflegekräfte auch nicht reinlassen, denn das Zuhause ist die letzte Schutzhülle, die man hat. Mir wurde auch bewusst, dass Privatsphäre ein Privileg ist, das viele Behinderte nicht haben. Sie können nicht einfach die Türe schliessen und sagen: «So Welt, jetzt go f*** yourself. Oder eben go hug yourself.» Nein, man braucht Hilfe beim Umziehen, beim Aufstehen. Fremde Menschen so nah an sich ranlassen zu müssen, das macht was mit einem. Das habe ich vorher nicht verstanden.
Wie sieht Ihr Hilfsnetz zu Hause konkret aus?
Neben der Haushaltshilfe, die jeden Tag kommt, hat unsere Tochter eine Assistentin (Fachbegriff: Integrationshilfe), die mit ihr in den Kindergarten geht und sie dort tagsüber begleitet. Wir haben zwei 450-Euro-Kräfte, das sind Studentinnen, die unsere jüngste Tochter vom Kindergarten abholen und dann nachmittags beide Kinder mitbetreuen, teilweise bis zum Nachtessen. Dazu haben wir das grosse Geschenk, dass wir eine Sonderpädagogin in der Nachbarschaft haben, die uns über Instagram gefunden hat, und wir uns privat auch sehr gut verstehen. Kürzlich hat sie gesagt: «Hey, ihr könnt nicht mehr, geht ein Wochenende weg, in ein Hotel. Und wir passen auf eure Kinder auf.» Das war so grossartig! Dass Menschen einfach kommen und sagen: «Ich helfe dir. Ich kenn dich nicht, aber ich sehe, du leidest, und ich unterstütz dich jetzt.» Das gibts so selten.
Dieses Gespräch erschien ursprünglich in «go hug yourself!», dem Podcast der Autorin. Im Gespräch erfahren Sie, wie Daniel und Annika Bröckerhoff Fürsorgearbeit und Mental-Load aufteilen und warum Ellen Girods Spruch «Ich ziehe meinen Hut vor euch» und «Ich würde das wohl nie schaffen» nicht auf Augenhöhe war.
Folgen Sie Daniel Bröckerhoff auf Instagram: Instagram.com/papabroe
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