Postkarten aus dem Kanton ZürichWo die Heidi-Schöpferin zur Schule ging
Journalistin Helene Arnet und Fotografin Doris Fanconi erzählen Geschichten aus der Region, wie sie sonst kaum zu lesen sind. Heute: Herzliche Grüsse aus Hirzel.
Hier besuchte also Heidi die Grundschule. Sein Bild aus der Trickfilm-Serie («Deine Welt sind die Berge …») steht vor dem schmucken Riegelhaus aus dem Jahr 1660. Unsinn, wir befinden uns ja nicht in Maienfeld, sondern hoch über dem Zürichsee im malerischen Hirzel, das zu Horgen gehört. Und hier besuchte die Heidi-Schöpferin Johanna Spyri (1827 bis 1901) die Grundschule.
Auf diesem kleinen hölzernen Klapppult könnte ihr Tintenfass gestanden sein, im oberen Stock steht ihr originaler Schreibtisch, an dem sie «das Heidi» schrieb und dafür von Conrad Ferdinand Meier gelobt wurde. «Ganz vorzüglich ist der Geissbub», schrieb ihr der Autor des «Jürg Jenatsch».
Das Spyri-Museum zieht immer mal wieder japanische Reisegruppen an. Sie treffen dort durchaus auf Heidi – sogar in ihrer Sprache. Weniger interessieren dürfte sie vielleicht, dass die geistige Mutter des Naturkindes Richard Wagner verehrte, einst im Zürcher Kratz-Quartier lebte, laut C. F. Meyers Schwester Betsy einen «Lappi» als Mann hatte und trotz vielfacher Bitte niemals eine Autobiografie schrieb. Mit der Begründung: «Wie könnte ich erzählen, was wahr ist.» Johanna Spyri war eben nicht Heidi.
Johanna-Spyri-Museum, Dorfstrasse 48, 8816 Hirzel, Bushaltestelle: Hirzel Kirche, Geöffnet Mi, Sa und So 14 bis 17 Uhr.
Kein dressierter, sondern ein zufriedener Hund – Herzliche Grüsse aus Hottingen
Bonny ist schlau und geduldig. Denn was er gerade tut, ist für einen Hund höhere Schule. Was nicht weiter erstaunt, er besucht gerade eine Stunde in der Hunde-Uni am Hottingerplatz. Bonny, eine 4-jähriger Bracke-Mischling, hat gegenüber seinen Mitstudierenden einen kleinen Vorteil. Die Dozentin, Katrin Wenger, ist nämlich sein Frauchen.
Zuvor hat sie mit ihm das Hütchenspiel gemacht: Sie hat ein Hundeguetsli unter einem von sechs blauen Bechern versteckt. Diese etwas verschoben. Ganz kurz ist der Student irritiert, doch dann stösst er das richtige «Hütchen» um und schnappt sich das Guetzli.
Jetzt liegen solche Läckerli auf seinen Vorderpfötchen. Er schaut sie gespannt an, weiss aber, waaarten, waaarten. Denn das ist die Lektion, die jetzt daran ist und Bonny mit Bravour besteht. «Hatschi», die Dozentin niest. Bonny rennt los, schnappt sich ein Päckli Papiernastücher und tauscht diese gegen ein Guetzli.
Es geht ihm - und auch seinem Frauchen- aber nicht darum, Kunststücke aufzuführen. Bonny ist kein dressierter, sondern ein zufriedener Hund. Denn das ist die erste Lektion, die Hunde und ihre Herrchen und Frauchen an dieser Uni lernen: Ein zufriedener Hund ist in den Beinen und im Kopf müde.
Strohdach und Zöpflifirst – Herzliche Grüsse aus Hüttikon
Die Buben, die das Haus gerade stürmen, interessieren sich mehr für das Mikrowellen-Gerät als für das Dach über ihrem Kopf. Es ist Mittagszeit und in dem imposanten Riegelhaus im Dorfkern von Hüttikon findet ein Mittagstisch in englischer Sprache statt.
Um 1682, als dieses Haus gebaut wurde, hätte man den Kindern zu Mittag wohl noch Milchsuppe und Haferbrei aufgetischt. Und das Haus wäre noch nicht so einzigartig gewesen. Noch 150 Jahre später waren 16 der 23 Häuser im Dorf vollständig mit Stroh bedeckt. Heute aber ist dieses das einzige noch bestehende Strohdachhaus im Kanton Zürich - es gäbe gar keines mehr, wäre Hüttikon nicht 1803 vom Kanton Aargau losgelöst und Zürich zugesprochen worden.
Gebaut hat es die reiche Familie Markwalder um 1682. Es diente als Bauernhaus, als Schulhaus und als Jugendherberge, heute ist es ein Begegnungsort für die Bevölkerung. 1940 hat der Kanton das unterdessen denkmalgeschützte Haus gekauft. Seither hält er es in Stand. So hat er 2019 das Dach erneuert. Beim First hat er sich aufgrund alter Bilder für eine anspruchsvolle Ausführung namens Roggen-Zöpflifirst entschieden.
Doch das alles ist den Buben unten vor dem Mikrowellen-Gerät Wurst. Die Tomatenspaghetti sind nun nämlich heiss.
Die Kunstgalerie im Labyrinth – Herzliche Grüsse aus Buchs
Bea Kathriner hat sich nur ganz kurz entfernt, da hatten wir uns schon verirrt. Fanden den Bären erst nicht mehr, die Maria schon gar nicht. Und da hinten irgendwo müsste doch das Schneewittchen mit den Zwerge sein. Oder war das in dem Gang etwas mehr links?
Bea Kathriner führte uns durch das Bergwerk im Krähstel oberhalb von Buchs. Es wurde 1891 von Johannes Spühler in Betrieb genommen und belieferte bis 1920 die Glashütte Bülach mit Quarzsand. Doch während die anderen Lieferanten den eisenhaltigen Sand an der Oberfläche abbauten, grub er es untertage ab, denn oben auf dem sanften Hügel wuchsen Reben, die ihm lieb waren.
Es entstand ein Labyrinth, das seinesgleichen sucht. Und zudem eine Kunstgalerie ist. denn die Bergbauarbeiter entwickelten den Ehrgeiz, die Wände mit Bildern zu verzieren: Kantonswappen, Adam und Eva im Paradies, ein Affe, ein Eichhorn, ein Hase. Ein wunderschöner Engel, ein schlafender Löwen nach dem Vorbild des Löwendenkmals in Luzern. Und eben: ein Bär, Schneewittchen mit den sieben Zwergen. Und irgendwo diese verflixte Maria, die wir nicht mehr fanden.
Führungen auf Anfrage: 043 411 83 62, quarzsand-bergwerk@info.ch
Gulliver auf Schweizer Reisen – Herzliche Grüsse vom Rheinfall
Draussen regnet es, doch wir stehen im Trocknen und bewundern den Rheinfall: Er schäumt gewaltig und führt für diese Jahreszeit viel Wasser. Nur tosen und spritzen tut er nicht. Und er ist auch 87mal kleiner als der echte.
Wer bei der SBB-Haltestelle Neuhausen/ Rheinfall nicht in Richtung Schloss geht, sondern den Weg hinauf zum ehemaligen Areal der Schweizerischen Industrie-Gesellschaft SIG unter die Füsse nimmt, landet in der 2018 eröffneten Miniaturwelt Smilestones. Diese ist wiederum eine Verkleinerung, nämlich eine kleine Ausgabe des riesigen Miniatur Wunderlandes in der Hamburger Speicherstadt. Behaglich lässt sich hier im Berner Oberland und am Alpstein-Gebirge vorbei schlendern, einem Schwingerfest und einer Landsgemeinde zuschauen.
Eisenbahnen fahren vorbei an blühenden Sonnenblumenfeldern und Kiesgruben. Über einer Städtelandschaft mit Windrädern und Hochkamin erscheint plötzlich ein riesiger Kopf. Gulliver auf Schweizer Reise – Zwergenland am Rheinfall.
Hier trotzt der Herbst noch dem Winter – Herzliche Grüsse aus Altstetten
Wie Vorzeit-Farne sehen die Rosenkohl-Stauden aus, die Mensch hoch aufgestängelt sind. Rote Hagebutten leuchten, vereinzelte noch blühende Rosen wirken wie vom Winde verwehte farbige Taschentücher, die in Dornengestrüpp hängen blieben. Im Hintergrund ragt die weisse Wand des neuen Eishockey-Stadions in den Himmel.
In den Schrebergärten an der Vulkanstrasse in Altstetten feiert der Herbst nochmals den Sommer und trumpft so auf, dass der Winter fern scheint. Ein Mann spricht uns an. Italienischer Akzent. Er heizt im Gartenhaus nochmals ein, ein letzter Abend, bevor er es für die Wintersaison rüstet. Die Plastikblachen liegen schon bereit. Die Trauben, welche über die Pergola des Nachbarn ranken, sind getrocknete Weinbeeren und schmecken honigsüss.
Manche Feigenbäume tragen kleine grüne Früchte, als ob es erst Frühling wäre. In einem Garten wächst eine noch nie gesehene Pflanze, die seltsam stachelige, knallrote Früchte trägt: Rhizinus, behauptet die befragte App, die Pflanzen erkennt. Wie kann nur etwas, was so scheusslich schmeckt, so schön sein?
Schokomandeln dragieren ist gut für die Fitness – Herzliche Grüsse aus Küsnacht
Es riecht zartbitter und sanft-süss nach Schokolade, doch Jolanda Steiner fühlt sich eher im Fitnessstudio als in der kleinen Küche in Küsnacht, in der sie steht. Sie dragiert gerade fünf Kilogramm Mandeln. Kurz zuvor hat sie eineinhalb Schöpflöffel flüssige Schokolade untergezogen und nun rührt sie mit behandschuhter Hand die Masse um, kommt dabei ins Schnaufen, muss mal die Schultern lockern.
Jolanda Steiner ist eine der wenigen, die noch Schokomandeln in reiner Handarbeit herstellen. Gelernt hat sie dies vor zehn Jahren bei dem ehemaligen Chef-Patissier der Confiserie Schuh aus Interlaken. Damals arbeitete sie noch im Personalwesen, Kochen war für sie ein Hobby, das sie allerdings leidenschaftlich betrieb.
Unterdessen produziert sie unter dem Label Küsnachter Mandelküsse hauptberuflich und zusammen mit zwei Mitarbeiterinnen im Schnitt 20 bis 30 Kilogramm Schokomandeln pro Woche. Doch zum Erzählen hat sie im Moment keine Zeit. «Jetzt muss es schnell gehen», sagt sie und rührt und rührt.
Es geht ums Timing und um die Temperatur. Wenn da etwas nicht stimmt, krümelt die Schokolade oder sie verteilt sich nicht gleichmässig oder die Mandeln verkleben ... Schiefgehen kann es auf viele Arten. Nach zwölf Schichten Schokolade wird degustiert. Nichts ging schief, gar nichts.
Eine Kutschenfahrt wie im Film – Herzliche Grüsse aus Schleinikon
Kamera läuft, die Erste, Klappe. Auf der Wiese hinter dem Schulhaus in Schleinikon scheint ein Film gedreht zu werden. Eine Kutschenfahrt, wahrscheinlich in England, spätes 19. Jahrhundert. Der Schein trügt: Es ist Trainingszeit des Fahrclub Lägern. Vereinspräsident Karin Huser sitzt mit geradem Rücken, die Gerte locker in der Hand auf dem Kutschbock, ihre Tochter Viviane fährt als «Page» mit, die dunkelbraun schimmerne Babu trabt und zieht den Einspänner.
Ein Zischen, ein Schnalzen oder ein leises Wort und Babu fällt in Galopp, läuft rückwärts oder ändert die Richtung so präzis, dass das Gespann zwischen zwei Kegeln durchfährt, die kaum eine Handlänge weiter auseinanderstehen, als die Kutsche breit ist.
Das Team um Karin Huser reist regelmässig zu internationalen Turnieren und kann auf eine Qualifikation für die WM 2023 im niederländischen Oirschot hoffen. «Sie sollten uns erst sehen, wenn wir bei einem Turnier mit Hut und entsprechender Kleidung fahren», sagt Huser. Denn Eleganz ist Teil dieses Sports und zählt bei der Bewertung. Dann werde selbst die Farbe des Lippenstifts auf den weinroten Beschlag der Kutsche abgestimmt. Eben wie in einem Film.
Unter Spinnern – Herzliche Grüsse aus Wetzikon
Jakob Meier öffnet das Garagentor und sagt: «Wir sind eben Spinner. Aber harmlose Spinner». Und «Spinner», die etwas zustande gebracht haben, wie sich nun zeigt. In der Halle stehen sechzehn unterschiedliche, doch ausnahmslos grosse Oldtimer-Lastwagen. 22 weitere stehen in einem Depot. Ein Postauto, Jahrgang 1925, ein Desinfektionsfahrzeug der Gesundheitsdirektion der Stadt Zürich, Jahrgang 1933, der Prototyp eines VBZ-Buses, Jahrgang 1959, bei dem der Chauffeur, und nur der, im Obergeschoss sass, ein Zugbeförderungswagen der SBB, um ganze Waggons auf der Strasse zu transportieren.
Alle Ausstellungsstücke sind fahrtüchtig, alle wurden einst von der Firma FBW konstruiert, und zwar von A bis Z, von der Zeichnung bis zum fertigen Fahrzeug. Die 1904 von Franz Brozincevic gegründete Firma war in der Schweiz Pionierin im Lastwagen- und Bus-Bau. 1988 wurde sie von Mercedes geschluckt. Die «Spinner» übernahmen ein paar Jahre danach das Archiv mit den Konstruktions- und Spezifikationsplänen für jedes einzelne Fahrzeug. Plus das etwa 40’000 Teile umfassende Ersatzteillager. Ersatzteile liefern sie in die ganze Welt. «Denn noch schöner, als wenn ein FBW-Wagen in unserem Museum steht, ist es, wenn er noch in Betrieb ist», findet Jakob Meier.
Lauter flatterhafte Wesen – Herzliche Grüsse aus Dürnten
Seine Lieblingsfarbe scheint Gelb zu sein. Und so setzt sich der handgrosse blaue Morphofalter auf das gelbe T-Shirt des Jungen und bleibt dort reglos sitzen. Vielleicht ahnt er auch nur, dass er dort besonders gut zur Geltung kommt. Im Juli und August ist jeweils Schaufliegen im Schmetterlingshaus des Garten-Centers Meier am Rande von Dürnten.
Da gaukeln Dutzende Sommervögel nektartrunken herum, manche träge, andere nervös, alle prächtig. Die Puppen, die in einer Ecke an Holzstäben hängen, werden aus einer Schmetterlingszucht in England importiert. Wer Glück und Geduld hat, kann beobachten, wie sich ein zerknittertes Insekt aus dem Kokon schält. Dann sitzt es ruhig da, taumelt manchmal ein bisschen und pumpt sachte, sachte seine Flügel auf.
Doch meist sind dann die Augen schon anderswo. «Det häds no eine, det no zwei», ruft ein kleines Mädchen begeistert. «Mami, dir sitzt eine uf em Chopf!» Nun klappt der blaue Riesenfalter auf dem gelben Shirt kurz seine Flügel zusammen. Die Hinterseite ist unscheinbar braun. Passt weniger gut zu Gelb. Also breitet er sie wieder aus, denn ein Schmetterlingsleben ist zu kurz, um unscheinbar zu sein.
Auf Knopfdruck ein Lächeln – Herzliche Grüsse aus Wald
Wer es jeweils bei den alten Züri-Trams nicht lassen konnte, hinten auf den Klingelknopf zu stehen, wird in diesem Raum zappelig vor Freude. Sicher zwei Dutzend Knöpfe zum Drauftreten gibt es hier, und jedes Mal passiert etwas anderes.
Hektisch beginnen Gabeln, Messer und Löffel zu hantieren, Kugeln rollen los, Bällchen spicken durch die Luft oder eine Feder streichelt einen Stein. Im Gewölbekeller der ehemaligen Fabrikantenvilla Flora in Wald ist vor kurzem ein kleines Museum entstanden, in dem rund hundert Arbeiten des 1937 geborenen, eigenwilligen Künstlers Yvan «Lozzi» Pestalozzi ausgestellt sind.
Das auf Knopfdruck wild gestikulierende Besteck trägt den Titel Fastfood, manche der Objekte haben einen gesellschaftskritischen Hintergrund: Saisonarbeiter, die rüde rausgekickt werden. Tierleid hinter Gittern. Manche sind bildliche Kalauer. Alle aber lösen bei jenen, die sie betrachten, dasselbe aus. Ein Lächeln erscheint in ihrem Gesicht. Wie auf Knopfdruck.
Die lückenhafte Stadtmauer – Herzliche Grüsse aus Bülach
Die mächtige mittelalterliche Mauer aus grob bearbeiteten grossen Steinbrocken schiebt sich wie ein Geschwür zwischen modernen Häusern und einem Sitzplatz mit Grill und Sonnenstoren hervor. Als ob sie kundtun wollte: Ich war zuerst da. War sie auch.
Die über ein Meter dicke Mauer, welche den Kirchhügel des Landstädtchens Bülach einst umgab, ist wahrscheinlich bereits um 1300 errichtet worden und heute noch an verschiedenen Orten erkennbar. Sie zu suchen, gleicht einer Schnitzeljagd. Manchmal erkennt man sie hinter einer rankenden Weinrebe, dann wieder in ein etwas heruntergekommenes Gehöft verbaut. Einmal parkieren Autos davor, dann dient ein kleines Stück als Abschirmung für einen Hinterhof.
Mehrmals verschwindet sie ganz, um irgendwo wieder als Stützmauer eines modernen Gebäudes aufzutauchen. Bülach hat einen pragmatischen Umgang mit der einst 800 Meter langen Stadtmauer gepflegt, vor der ein bis zu neun Meter breiter Graben verlief. Dieser wurde bereits im 16. Jahrhundert aufgefüllt, die Mauer wurde kreativ verbaut, sodass sie nicht mehr drinnen und draussen trennt, sondern früher und heute verbindet.
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