Postkarten aus dem Kanton ZürichEin Garten voller Jahreszeiten
Journalistin Helene Arnet und Fotografin Doris Fanconi erzählen Geschichten aus der Region, wie sie sonst kaum zu lesen sind. Heute: Herzliche Grüsse aus Grüningen.
Der Ahorn hat kleine Blätter, die gelb-orange leuchten. Dahinter steht ein zweiter mit blutroten Blättern. Wir wähnen uns in der falschen Jahreszeit. Rundum ist Frühling, doch hier tragen die Bäume scheinbar ihr Herbstkleid. Solche Irritationen bietet der Botanische Garten bei Grüningen. An einem Weiher blühen die Rhododendren und Hortensien, im Alpinum und Steingarten ist die Flora noch so karg, als wäre erst gerade der letzte Schnee geschmolzen.
Das hat vor allem damit zu tun, dass hier Pflanzen aus aller Welt wachsen. Und das wiederum geht auf den Ursprung des Gartens zurück: Der Industriekaufmann Arthur Amsler hat ihn 1961 geschaffen, um zu erfreuen, aber auch um zu erforschen, wie exotische Pflanzen auf harte Winter reagieren. Harte Winter? Seit 1987 gehört der Garten einer Stiftung der Zürcher Kantonalbank, der Eintritt ist gratis. In der Farnschlucht singen so viele Vögel gleichzeitig, dass das App, das Vogelstimmen erkennt, durcheinander gerät.
Mitten ins rot-orangen Tulpenfeld hat sich eine grell-gelbe Tulpe geschmuggelt und im architektonisch gelungenen Gewächshaus fällt eine reife Papaya vom Baum.
Kreis 6 – Ein Orang Utan im Universitätsquartier
Wie öd waren doch diese Sonntagsspaziergänge durch Einfamilienhausquartiere. Die Eltern bewunderten die herrschaftlichen Villen mit ihren Gärten und wir Kinder trotteten missmutig hinterher. Hier, im Kreis 6, und heute wäre das anders gewesen. Denn hier wären wir Kinder vom Jagdeifer ergriffen worden: Wer findet das nächste Tier?
Unter einer alten Zypresse an der Möhrlistrasse steht ein kleiner Dino. Er gehöre dem Papa, sagt das kleine Mädchen, das im Vorgarten Trottinettfahren übt. «Papa mag Dinos.» Etwas die Strasse hinunter guckt ein grauer Drache über den Zaun. Ein Schuppen beim Quartierzentrum ist eine Unterwasserwelt, auf einem Garagentor am Ottikerweg prangt ein riesiger Orang-Utan des Graffiti-Künstlers Alex Hohl.
Eine kleine Ente auf einem Baumstrunk, die Tierkreiszeichen an einem Fries ebenfalls am Ottikerweg: Skorpion, Krebs, Stier, Steinbock … Dann, das wäre gewiss der Höhepunkt des Spaziergangs gewesen: ein lebensgrosser, fast echter Menschenaffe, der an einem Baum hangelt. «Ein Gorilla!», hätte dann eines der Kinder gerufen. «Ist gar kein Gorilla», hätte die naseweise kleine Schwester gesagt. «Gorillas sind schwarz, nicht rostrot», und darüber hätten wir dann den ganzen Heimweg lustvoll gestritten.
Glanzenberg – Wo ist der Biber?
Hier lebt ein Biber. Nur wo genau? Es muss jedenfalls ein Biber mit Sinn fürs Urbane sein. Denn hier hat nicht nur er gebaut, sondern auch der Mensch.
Der Altlauf der Limmat bei Glanzenberg, einem Ortsteil von Dietikon, liegt zwischen Strasse und Bahngleis und im Schatten der A3, die über ihn führt. Dazu kommt ein Fussgängersteg. Alles Menschenwerk ist von Graffiti überzogen. Aber auch die Findlinge am Wegrand sind mit Ölfarbe übergossen.
Umso mehr Ruhe strahlt die sich selbst überlassene Natur aus. Die Schilfgürtel, die Tümpel, die gestürzten Bäume, der Biberbiss am Ufer. Doch wo versteckt er sich bloss, dieser verflixte Biber? Ein Haubentaucher-Paar rudert nervös umher. Taucht plötzlich ab, taucht ganz woanders wieder auf.
«Frost» steht in grossen Buchstaben auf einem Pfeiler der Autobahnbrücke. Das Wort spiegelt sich im Wasser und löst sich zu Farbschlieren auf, als eine Teichralle eilig hindurchpaddelt, um gleich darauf im Dickicht aus Schilf und Wasserpflanzen zu verschwinden.
Dorthin, wo der Biber wohnt?
Reppischhof – Ein bisschen Alchemie
Es mutet ein bisschen wie Alchemie an, was in der unauffälligen Lagerhalle im Reppischhof zwischen Dietikon und Bergdietikon vor sich geht. Wie flüssiges Gold sieht die Masse aus, die in einem rotglühenden Topf träge blubbert.
Auch Florian Christen, Geschäftsinhaber von Christenguss in vierter Generation, kann sich der Faszination nicht entziehen: «Es fühlt sich tatsächlich etwas wie Alchemie an, was wir hier tun. Trotz aller Messbarkeit.» Christenguss gehört zu den kleineren Giessereien im Land, dafür kann sie auch für Kleinkunden Kleinmengen produzieren.
Pro Jahr sind das bis tausend verschiedene Teile für etwa hundert Kunden. Vor allem aus Aluminium und Kupfer. Kupfer ist es denn auch, das gerade in einem hochmodernen Induktionsofen auf 1000 Grad erhitzt wurde und wie flüssiges Gold in die zuvor gefertigten Sandformen gegossen wird. Diese Formen herzustellen, ist aufwendiger als das Giessen selbst.
Seit 2016 werden diese mittels eines 3-D-Druckers hergestellt. Grosse Formen werden nach wie vor von Hand gefertigt. Flammen schiessen hoch, Wasserdampf steigt auf. Dann ist Schluss mit Alchemie – und es beginnt das Handwerk.
Aumüli – Rüttelschuh und Tanzmeister
Es klappert die Mühle am rauschenden Bach wegen Rüttelschuh und Tanzmeister. Sie klappert schneller, wenn der Läufer schneller dreht. Und dies wiederum hängt irgendwie mit dem Königsrad zusammen, das direkt mit dem Mühlrad draussen verbunden ist.
Rüttelschuh und Tanzmeister befördern das Mahlgut über den Schluck auf den Champagne-Mahlstein. Solche und noch viel mehr schöne Wörter hört, wer sich durch die denkmalgeschützte Aumüli führen lässt. Vorausgesetzt es erzählt ein so begeisterungsfähiger Mensch wie Ferdinand Gramsamer, der Präsident der Stiftung Aumüli ist.
Er zeigt, wo sich buchständlich die Spreu vom Weizen trennt. Hier ist es allerdings Dinkel, nicht Weizen. Und wie das geschieht: durch ein Gebläse. Er erklärt ein einfach scheinendes, aber raffiniertes Konstrukt namens Plansichter, welches das gemahlene Korn in unterschiedlich feines Mehl trennt - und dank einer zündenden Idee eines Winterthurers selbstreinigend ist. So viel sei verraten: Sie hat mit Erbsen zu tun.
Die Aumüli wurde nachweislich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Betrieb genommen und liegt in einem Weiler von Stallikon im Reppischtal. Sie klappert dank eines Vereins bis heute.
Hinterbuchenegg – Trockenblumen für das Klima
Jakob ist der Edelste, Agathe die Beliebteste, Paola schneeweiss, Verena die Extravaganteste, und Gion ist mit seinem fast japanischen Gehabe Roger Eberhards Favorit. Jakob, Agathe und Co. sind Trockenblumensträusse, die allerdings gar nichts von dem Verstaubten an sich haben, das man ihnen nachsagt.
Kreiert werden sie von Eberhard und seiner Partnerin Nikki Böhler auf der Hinterbuchenegg, wachsen und trocknen tun die Blumen auf einem Bioblumenhof im Aargau. Die Idee, Bio-Trockenblumensträusse aus der Schweiz anzubieten, hatten die beiden vor vier Jahren, als ihnen bewusst wurde, dass zwölf holländische Rosen gleich viel CO2 verursachen wie ein Kilo Rindfleisch oder fünfzig Kilometer Autofahrt.
Dabei hatten die beiden mit Blumen nichts am Hut. Er ist Künstler, sie Wirtschaftswissenschaftlerin. Sie nannten ihr Unternehmen Arui und lernten zuerst, Niederlagen wegzustecken. Die einen Blumen verloren beim Trocknen die Farbe, die andern zerfielen.
Doch manche blieben wunderschön oder wurden noch schöner. 60’000 Blumen haben sie letztes Jahr zusammen mit ihrem Team zu Sträussen gebunden. Edeldisteln zu Jakob, Strandflieder und pinke Papierblumen zu Agathe, Artischocken zu Verena...
Oberrieden – Wo manche Altflöten uralt sind
Vor Markus Huber liegen Feilen, Schnitzmesser – und eine Zahnbürste. Mit ihnen gibt er einer Blockflöte den letzten Schliff. Nur ein bisschen hat er gefeilt, schon tönt die Flöte fröhlicher. Huber sitzt am Fenster in seinem Atelier in Oberrieden, umgeben von Hunderten von fertigen und halb fertigen Flöten.
Er zieht ein noch viereckiges dunkles Holzstück aus einem Regal. Aus dem wird er eine Spezialität seiner Flötenmanufaktur anfertigen: eine Mooreichenflöte. Entwickelt wurde dieser Instrumententyp von seinem Vater Gerhard Huber zusammen mit dem Künstler Roland Erne aus Eichenholz, das Jahrtausende im Moor lag. Die beiden frotzelten damals, dass es sich nicht um Altflöten, sondern um Uraltflöten handle.
Generell gilt: Weiches Holz ergibt einen warmen Ton, hartes einen hellen, der sich für Solistinnen und Solisten eignet. Und wie tönt die Uraltflöte? Der Ton schwingt warm, fast sehnsüchtig durch den Raum, als stamme er aus einer fernen Zeit.
Schwerzenbach – Vorsicht Kunst!
Vorsicht Kunst! Das entsprechende Verkehrszeichen, das an der Tür des kleinen Giebelhauses eingangs Schwerzenbach angebracht ist, wäre nicht nötig gewesen. Man bleibt ohnehin stehen und betrachtet die Fassade, auf der Primatenköpfe und archaisch aussehende Figuren angebracht sind. Dann ist da noch eine ausrangierte Postfach-Wand, in der Meisen nisten, und ein Geflecht aus Marmor, hinter dem Sonnenblumen wachsen. Auf dem Klingelknopf steht Marco Ferronato.
Er entwirrt, was uns verwirrt. Der Bildhauer Marco Andrea Ferronato ist Urheber des Marmor-Geflechts und in dem Atelier eingemietet, in dem einst Max Frühauf (1928 bis 2003) arbeitete. Von diesem stammt der Fassadenschmuck, der eine interessante Geschichte hat.
Die Kurzfassung, wie sie Frühaufs Tochter erzählt: Ihr Vater war Zeichnungslehrer an der Kunstgewerbeschule Zürich und unterrichtete vor allem im Aktzeichnen. Daher kannte er sich bestens aus in der Anatomie der Lebewesen. Die Affenköpfe modellierte er aus Ton. Davon wurde ein Negative erarbeitet für den Abguss. Zusammen mit weiteren Figuren formierte er diese zu seiner ureigenen Evolutionsgeschichte, die er auf dieser Fassade erzählt. Sie gipfelt im Paradies.
Tröstlich. Tröstlich auch, was hinter der Fassade zuweilen geschieht. Ferronato unterstützt Trauernde dabei, ihre Trauer in Steine zu meisseln. Und damit zu verarbeiten.
Hasenberg – Von oben herab
Es geht nicht anders als mit Zahlen einzusteigen: Nach 210 Stufen über dreizehn Plattformen stehen wir 36 Meter über oder und sehen wir 380 Gipfel. Mindestens! Und es geht auch nicht anders als zu denken, zu sagen oder gar zu rufen: Ist das unglaublich schön hier!
Auf dem Hasenberg am Mutschellen steht seit diesem Sommer ein neuer Aussichtsturm. Es ist zweifellos einer der schönsten seiner Art, Von unten gesehen, beim Aufstieg, von oben gesehen. Das Gerüst aus Fichten- und Tannenholz bildet Bilderrahmen, welche unten die Wiesen und Weiden, weiter oben die nahe Landschaft, ganz oben die Berge vom Napf bis zum Speer wie Landschaftsbilder inszeniert. Eiger, Mönch, Jungfrau, Pilatus… Alle sind sie da.
Und wenn sie von Wolken verdeckt sind, schaut man einfach in die andere Richtung. Dort gibt es garantiert immer Wipfel zu sehen, ganz nahe, je nach Jahreszeit anders gefärbt. Baumwipfel. Sie sind bei den 380 oben nicht mitgezählt. Zum Schluss noch eine bemerkenswerte Zahl: Der Eintritt kostet 0 Franken.
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Friesstrasse – Die Zeiten übereinander gelegt
Auf der nur gerade 500 Meter langen Friesstrasse an der Grenze zwischen Oerlikon und Seebach überlagern sich die Zeiten, als ob jeweils eine neue Schicht über die alte gelegt worden wäre, die jedoch einige Durchblicke offen lässt.
Zuunterst und zuerst waren da fast schon herrschaftliche Häuser wie etwa das «Haus zum Glück», bäuerlicher Jugendstil. Überlagert dann vom Dörflichen. Hübsche Sgraffiti an einem Haus zeigen das Bäckerhandwerk: Guggelhopf und Brotlaib. «Fleisch» stand bis vor kurzem weiter vorn noch als Werbung an der Hauswand. Den Metzger gibt es noch, doch setzt er vor allem auf Engros-Kundschaft.
Dann kam das Arbeiter-Zürich, Genossenschaftswohnungen, 1922. Gefolgt vom Café Plaza, grün, orange und Kunstlederbänke als Überbleibsel aus den Sixties. Dann 70er-Jahre-Blöcke mit Apartments für möbliertes Wohnen. Schliesslich das, was der Strasse im Volksmund die Bezeichnung «Balkan-Meile» einträgt: Shisha-Bars, Kebab-Buden, baltische Spezialitäten. Palmen und Zypressen stehen im Hinterhof neben Hauswurz und Hagebutten. Und mitten drin die Café-Bar Heimat. Welche Heimat?
Steinmaur – ein Paradies für Adam und Eva
Einer der Bäume ist ganz krumm gewachsen. Er trägt keine Früchte mehr und Efeu umrankt seinen Stamm. Der Rest aber steht stramm in Reih und Glied. Es sind Hunderte. Im Bönler zwischen Steinmaur und Sünikon steht ein riesiger Obstgarten, Hochstamm und Halbhochstamm, in dem die Jahreszeiten sich wie kaum woanders ins Bild rücken.
Im Moment biegen sich die Äste unter den Früchten. Manche müssen deswegen gestützt werden. Hier wäre der liebe Gott sicher nicht in Zorn entbrannt, wenn Adam und Eva sich hin und wieder einen Apfel gepflückt hätten.
Es ist aber auch ein Paradies für unzählige Insekten- und Spinnenarten, die wiederum die Vögel anziehen. Fünf- bis zehnmal mehr als auf den umliegenden Landwirtschaftsflächen. Das alles entnehmen wir einer etwas verwitterten Tafel am Wegrand, die zum Obstlehrpfad von Fructus gehört, einer Vereinigung, die alte Obstsorten fördert. Der Lehrpfad wird in diesem Herbst erneuert, damit das Paradies nicht altbacken daherkommt.
Wollishofen- der schönste Umweg der Stadt
Wer einfach schnell vorwärtskommen will, marschiert entlang der Seestrasse. Wer dabei ein bisschen die Seele baumeln lassen möchte, nimmt den Umweg über den Cassiopeiasteg. Gut hundert Schritte mehr, hundert Schritte Feriengefühl und sanftes Fernweh am Rande der Stadt in Wollishofen.
Die Alpen in der Ferne, Möwen über den Köpfen, Läugel-Schwärme, wenn man über das Geländer hinunter ins Wasser schaut. Wie seltsam: Stadtmenschen, die es nicht eilig haben. Ausser die Jogger, doch bei ihnen gehört dies zum Konzept. Kormorane sitzen mit ausgebreiteten Flügeln auf den hölzernen Flossen, wenn die Badenden das Strandbad nicht bevölkern.
Seeuferstege sind echte Alternativen, wo die Seeuferwege verstellt sind. Am schönsten ist dieser Spaziergang in mondlosen, klaren Nächten. Wer dann auf dem unbeleuchteten Steg hinaus auf den See läuft, hört nur das Plätschern des Wassers und hat das W-förmige Sternzeichen der Cassiopeia vor Augen. Nun muss man nur noch gedanklich etwas abheben, schon führt der Steg direkt auf die Milchstrasse.
Zürichhorn – Knatter, knatter, quietsch, bäng
Manuel Kümin lehnt die Leiter an das Gebilde und behält offenbar die Übersicht in dem Gewirr aus Eisenstangen, Stahlrädern, Metallrohren und Metallpfannen, welche Jean Tinguely zur Plastik «Heureka» am Zürichhorn zusammenfügte.
Mit ruhigen Bewegungen beginnt er, systematisch die Schlösschen zu schmieren, welche die Keilriemen zusammenhalten, die Riemen zu spannen, wenn sie durchhängen, oder zu ersetzen, wenn sie schadhaft sind. Manchmal muss er auch, wie eben, ein Vogelnest entfernen.
Kümin hat das von einem unterdessen pensionierten Kollegen gelernt, als er in den städtischen Werkstattbetrieben arbeitete. Nach deren Schliessung fand er eine Anstellung beim Metallbauunternehmen Safos in Wangen-Brüttisellen. Und weil niemand so gut wie er weiss, wie Tinguelys «Heureka» tickt, behielt er den Auftrag, diese zu warten.
Im Frühling ist jeweils ein grosser Service fällig, bevor das mit fünf Motoren betriebene Kunstwerk in Betrieb geht. Ende Herbst macht er es für die Winterruhe bereit. Es brauche viel Erfahrung, um die Maschine so zu justieren, dass sie reibungslos läuft, sagt Marcel Habegger, der Kümin zur Hand geht.
«Lassen wir sie mal laufen», sagt dieser. Und dann: «Tönt nicht schlecht, sie giered fast nicht.» Knatter, bäng, knatter, knatter, quietsch, bäng.
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