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Das Wunder von Warschau
Die Stadt, die wieder auferstand

Promenade am Weichselufer, Statue der Warschauer Seejungfer - Warszawska Syrenka, General George Smith Patton Boulevard, Warschau, Woiwodschaft Masowien, Polen *** Promenade on the banks of the Vistula, statue of the Warsaw Mermaid Warszawska Syrenka, General George Smith Patton Boulevard, Warsaw, Mazovian Voivodeship, Poland
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Warschau gab es 1945 nicht mehr. Die Stadt musste neu erfunden werden. Die heute so grüne und farbige Hauptstadt Polens könnte dereinst als Vorbild dienen für all die ukrainischen Städte, welche die russische Armee zerstört hat.

Grzegorz Piątek ist Architekt, Buchautor, Warschauer. «Die beste Stadt der Welt» heisst sein Buch übersetzt, das er über die Wiederaufbaujahre geschrieben hat. Auslöschung und Neuaufbau der Stadt prägen bis heute das Gesicht Warschaus und das Selbstverständnis der Einwohner.

Es ist diese positive Geschichte, die Piątek in seinem Buch erzählen will. Eine Geschichte, die nicht mit Horror, Zerstörung und Hoffnungslosigkeit endet. Sondern von der Energie, Kreativität und Schaffenskraft von Architekten, Landschaftsgärtnerinnen und vielen Arbeitern und Freiwilligen in den ersten Nachkriegsjahren erzählt.

Adolf Hitler wollte nach Aufstand ganz Warschau vernichten

Das Stadtschloss mit seiner heute leuchtend roten Fassade hatten die Deutschen schon Anfang September 1939 bombardiert. Warschau kapitulierte am 27. September. Am 5. Oktober 1939 liess sich Adolf Hitler durch die Stadt fahren. Die Deutschen sperrten grosse Teile der Innenstadt für sich ab – für die Einheimischen galt: betreten verboten.

Warsow, Poland, 20 July 2019. Old town city center.

Bereits in den ersten Kriegstagen waren etwa 26’000 Einwohner der Hauptstadt ums Leben gekommen, bei Bombenangriffen wurden Häuser, Strassen, Brücken zerstört, insgesamt etwa zwölf Prozent der Bausubstanz. Warschau war eine beschädigte und zugleich unfertige Stadt. Polen war gerade 20 Jahre frei und unabhängig gewesen. Zu wenig Zeit, um den Hauptbahnhof fertigzustellen und genügend moderne Wohnviertel zu bauen.

Nach dem Ausbruch des Warschauer Aufstands am 1. August 1944 erliess Adolf Hitler den Befehl, die ganze Stadt zu vernichten. Nach 63 Tagen Kampf musste die Polnische Heimatarmee am 2. Oktober 1944 aufgeben, 200’000 Warschauerinnen und Warschauer waren tot, die Deutschen hatten Massenmorde begangen, Tausende Menschen deportiert. Fast alle, die diese Massaker, Deportationen und Bombenangriffe überlebt hatten, verliessen nun die Stadt.

Nazis sprengten gezielt alles, was noch stand

Bereits im Vorjahr hatten Wehrmacht und SS den verzweifelten jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto niedergeschlagen. Vor dem Krieg hatte die Hauptstadt 1,3 Millionen Einwohner gehabt, 1944 war sie fast völlig verwaist. Und die wenigen Deutschen, die noch in Warschau waren, sprengten bis zu ihrem endgültigen Abzug am 16. Januar 1945 gezielt alles, was noch stand, brannten gründlich und geduldig nieder, was Bomben und Granaten getrotzt hatte.

Poll photo collection. Travel to Poland. Street corner in the Jewish Quarter, with signs in Polish and Hebrew. 1934. Poland, Warsaw Copyright: xpiemagsx pienatarchpart630102021-18386 ACHTUNG AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT
Street in Warsaw 609325 17.01.1945 A street in Warsaw destroyed by the Germans. January 1945. The Great Patriotic War of 1941-1945 Loskutov / Sputnik Warsaw Poland PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxESTxLTUxLATxNORxSWExDENxNEDxPOLxUKxONLY Copyright: xLoskutovx

Zu etwa 85 Prozent, so wurde später errechnet, war die Stadt zerstört. Die ersten Besucher Warschaus nach dem Abzug der Deutschen waren beim Anblick der Ruinen so verzweifelt und hoffnungslos, dass die neue kommunistische Führung des Landes ernsthaft überlegte, die Hauptstadt ins nahe gelegene Łódź zu verlegen.

Doch schon im Februar 1945, wenige Wochen nach dem Abzug der Wehrmacht, wurde in Warschau das Büro für den Wiederaufbau der Hauptstadt, kurz BOS, eingerichtet. Der sowjetische Diktator Josef Stalin habe persönlich angeordnet, Warschau wieder aufzubauen und zum Sitz der kommunistischen Regierung von Stalins Gnaden zu machen, sagt Piątek.

Warschau galt vor dem Krieg als die am dichtesten besiedelte Stadt Europas. Mehr Häuser als Grün. Wo heute durch die Innenstadt mehrspurige Strassen verlaufen, in deren Mitte das Tram fährt, waren vor dem Krieg schmale Fahrbahnen. Vor allem die Wohnviertel waren sehr eng bebaut, die Altstadt ein Elendsviertel, einige Strassen noch unbefestigt.

Stefan Starzyński prägte das moderne Warschau

Schon in den Dreissigerjahren hatte deshalb der damalige Bürgermeister Stefan Starzyński Bauprojekte angeschoben. Die Gestapo nahm ihn 1939 fest. Ob die Nazis ihn in Warschau ermordeten oder erst ins Konzentrationslager Dachau deportierten, ist bis heute unklar. Starzyńskis Visionen aber wurden nach dem Krieg wieder aufgegriffen. Er gilt als Gestalter des modernen Warschaus, obwohl er es nie mehr gesehen hat.

Wo aber fing man an? 1945, in all dem Schutt? In seinem Buch beschreibt Piątek die Ausgangslage: Staubwolken hingen über der Stadt, setzten sich ständig auf Kleidung, Haaren, Haut ab, erschwerten den Menschen das Atmen. Minenräumer gingen durch die Strassen, Leichen wurden exhumiert.

Grzegorz Piątek

Mit der Einrichtung des Wiederaufbaubüros erhielt die unmöglich erscheinende Aufgabe frühzeitig eine Struktur. Beim Spaziergang durch Warschau erzählt Grzegorz Piątek von grossen Sammelstellen. Dort wurde sortiert: Türklinken, Fensterriegel, Heizkörper. Frauen scheuerten aus dem Dreck gezogene Waschbecken und Badewannen, bis sie aussahen wie neu – so schrieb ein Journalist im Juni 1945, den Piątek in seinem Buch zitiert. Auch Baumaterial, Fliesen, Ziegelsteine, Granit, Marmor, wurde gesammelt. Aus Schutt rührten die Bauarbeiter eine Art Beton zusammen – der war gut genug für Strassen, Strassengräben oder auch nicht tragende Zimmerwände.

Weil das alles nicht reichte, wurde Material aus anderen Städten in die Hauptstadt gebracht. Vor allem aus den bis eben noch deutschen Städten Breslau und Stettin. «Das halten uns deren Einwohner heute noch vor», sagt Piątek lachend. Man habe damals nicht daran geglaubt, dass die Städte wirklich polnisch bleiben – und deshalb herausgeschafft, was man konnte.

Auch Arbeiter gab es nicht genug. Deshalb wurden Tausende sogenannte Volksdeutsche, also Polen deutscher Abstammung, sowie Nazikollaborateure und Kriegsgefangene eingesetzt. Besonders für die unbeliebten und gefährlichen Aufgaben – wie etwa die Exhumierungen. Finanziell musste sich letztlich das ganze Land beteiligen, alle Aufmerksamkeit galt der Hauptstadt. Die Sowjets waren dafür zuständig, die Reparationen, die Deutschland zahlen musste, auch an Polen zu verteilen. Wie viel davon wirklich ankam, ist umstritten. Jedenfalls erklärten die Sowjets die Reparationsschuld schon 1953 für beglichen.

Diskutiert aber wird das Thema bis heute. Die rechtsnationalistische PiS-Regierung versuchte, aus einer Reparationsforderung an Deutschland über 1,3 Billionen Euro einen Wahlkampfschlager zu machen. Und auch die heutige konservativ-liberale Regierung unter Donald Tusk erwartet zumindest Hilfszahlungen für noch lebende NS-Opfer.

Wiederaufbau auch durch Spenden aus ganz Polen

Der Wiederaufbau Warschaus war 1953 jedenfalls nicht beendet. Das Stadtschloss wurde erst in den Siebzigerjahren neu aufgebaut – finanziert durch Spenden von Menschen aus ganz Polen. Retter hatten nicht nur Einrichtungsgegenstände, sondern auch originale Bauteile erhalten; sie wurden dem Neubau hinzugefügt.

Wie jede Grossstadt habe Warschau heute aber nicht eines, sondern mehrere Zentren, sagt Piątek. Eines ist zweifellos die beschauliche Altstadt. Touristen gehen durch die Gässchen, fotografieren schmale, bunte Häuschen, mächtige Kirchen, einen Marktplatz, der keinen Vergleich mit einer italienischen Piazza scheuen muss. Wer es nicht weiss, kann nicht erkennen, dass das alles mal zerstört gewesen ist. Im Jahr 1980 wurde die Altstadt ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen.

Das drängendste Vorhaben war jedoch der Wohnungsbau. Piątek möchte eines seiner Lieblingsviertel zeigen: Muranów. Piątek geht vom breiten Trottoir durch eine kleine Grünanlage, eine Treppe hinauf zu einer Terrasse, tritt durch einen Torbogen – und steht in einem ruhigen, grünen Hof. Der Strassenlärm ist weit weg. Hier haben die Architekten ihre Ideen des modernen Wohnens umgesetzt, erklärt er.

BERNARDO BELLOTTO. View of Warsaw from the terrace of the Royal Castle. Date/Period: 1773. Painting. Oil on canvas. Height: 166 cm (65.3 in); Width: 269 cm (105.9 in).
Palace of Culture and Science in Warsaw city downtown, Poland.

Ein Viertel der kurzen Wege mit Kindergärten, Schulen, Läden – auch wenn es in diesen wenig zu kaufen gab. Strukturiert in kleinere Einheiten, jeweils mit Höfen, Gärtchen, Blumenbeeten, Sitzbänken. Einsehbar und dennoch privat. Und alles so grün und lebendig, wie es sich die Landschaftsarchitektin Alina Scholtz erträumt hatte.

«Dass die Kommunisten flächendeckend enteignet haben und nicht jeder Privatbesitzer oder Erbe sein eigenes Haus wieder errichtet hat, hat natürlich solche von Grund auf neuen Siedlungen erst möglich gemacht», räumt Piątek ein. Seine Erzählung vom Wiederaufbau endet 1949. Viele Ideale wurden bald zerrieben unter politischer Repression, Materialmangel und sowjetischer Prunksucht.

Später entstanden wieder allzu gesichtslose, allzu graue Neubausiedlungen, die Stadt wurde autogerecht, das Radwegenetz hat Lücken. Auch die Neunziger haben Spuren hinterlassen mit schnell hochgezogenen Neubauten, deren Glanz bald verblich. Und der Bauboom ist nicht vorbei. Er wird von vielen kritisch gesehen.

Ist das heute die ideale Stadt? Das neue Warschau, schöner, als das alte vor dem Krieg es war? Davon, sagt Piątek, haben die Architekten zumindest geträumt. Diese Stadt haben sie gezeichnet, darüber haben sie sich ausgetauscht. «Im Krieg hatten Architekten ja wenig zu tun», sagt Piątek lakonisch. Die Projektion eines besseren Warschau sei vielleicht ihre Art gewesen, mit Schmerz und Verlust umzugehen. Und so entstanden aus Schrecken und Trauer die Pläne für die «beste Stadt der Welt».