Petras BuchzeichenWarum Eindringlinge Angst machen
Ein Ohrring am Boden verriet mir, dass uneingeladene Gäste da gewesen waren. Es änderte mein Menschenbild.
Der Brunnen führt wieder Wasser! Jeden Frühling warte ich sehnsüchtig auf diesen Moment. Er bedeutet, dass die Temperaturen nicht mehr unter den Gefrierpunkt sinken werden. Oder zumindest, dass jemand, der am Haupthahn sitzt, daran glaubt. Für mich beginnt jetzt die Gartensaison. Zwar bin ich auch im Winter häufig im Schrebergarten anzutreffen, doch mit Säen halte ich mich zurück, bis ich nicht mehr auf den Regen angewiesen bin. Zu gut erinnere ich mich an einen aussergewöhnlich warmen, trockenen März vor einigen Jahren. Die Keimlinge starben, kaum hatten sie das Tageslicht erblickt.
Fliessend Wasser ist für mich aber viel mehr als Giesswasser. Es bedeutet, dass ich das Gartenhäuschen in Betrieb nehmen kann. Jeden Herbst montiere ich die Fensterläden und verriegle die Tür. Hin und wieder kommt es zu Einbrüchen im Areal, und ich will sicherstellen, dass im Frühling noch alles da ist. Das Häuschen ist für mich mehr als ein Aufbewahrungsort für Werkzeug, Samen und Gartenhandschuhe. Im Sommerhalbjahr ist es mein Schreibplatz.
Voller Vorfreude packte ich vor einigen Tagen Putzessig, Lappen und frische Küchentücher ein. Ich konnte es kaum erwarten, loszulegen. Ich wollte abstauben, den Boden feucht aufnehmen, die Fenster putzen. Anschliessend den Schrank in der Kochnische mit Kaffee, Olivenöl, Essig und Gewürzen füllen. Ich hatte Reis eingepackt, wenn die Zeit reichte, würde ich mir einen Bärlauch-Risotto mit Brennnesseltee kochen. Und vielleicht sogar ein paar Zeilen schreiben.
Wer hat aus meinem Tellerchen gegessen?
Im Garten blieb ich einen Moment stehen, um die Narzissen zu bewundern. Dazwischen leuchteten Traubenhyazinthen, Veilchen und Primeln. Dankbarkeit erfüllte mich. Jeder Stein war noch an seinem Platz, am Häuschen entdeckte ich keine Spur von Vandalismus. Ich holte den Schlüssel aus seinem Versteck und wollte gerade die Tür aufschliessen, als ich am Boden einen kleinen, goldenen Ohrring entdeckte.
Ich hob ihn auf und drehte ihn zwischen den Fingern. Ich war mir sicher, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Auch, dass er keiner meiner Mitgärtnerinnen gehörte. War jemand hier gewesen? Nervös öffnete ich die Tür. Drinnen war es stockdunkel. Ich entriegelte die Fensterläden, und Licht strömte ins Häuschen. Auf den ersten Blick sah alles unberührt aus. Auf dem Tisch lagen zwei Packungen Gründünger vom letzten Herbst sowie das Thermometer, das wir benutzen, um die Temperatur des Komposts zu messen. Dann fiel mein Blick auf die Ablage.
Das hölzerne Schneidebrett. Das benutzte Brotmesser. Daneben Brösel. Sofort nahm ich mein Handy hervor und fragte in unserem Gartenchat, ob jemand im Häuschen gepicknickt hatte. Anschliessend drehte ich eine Runde durch den Garten, um nach weiteren Ungereimtheiten zu suchen. Jetzt fiel mir auf, dass die Grillschale nicht dort stand, wo sie normalerweise war. Ich öffnete den Deckel und stellte fest, dass sie mit Asche gefüllt war. Im Abfalleimer fand ich leere Bierdosen.
Nun hatte ich Gewissheit. Hier hatte eine Grillparty stattgefunden. Kurz darauf trafen die Antworten meiner Mitgärtnerinnen ein. Sie waren es nicht gewesen. Ich fühlte mich wie der Zwerg im Märchen Schneewittchen, der fragt: «Wer hat aus meinem Tellerchen gegessen?»
Die Entdeckung beschäftigte mich eine ganze Weile. Ich erwog, das Foto des Ohrrings auf sozialen Medien zu veröffentlichen. Den «Einbruch» dem Vereinsvorstand zu melden. Bis eine Mitgärtnerin fragte, warum es mich denn störe, wenn jemand bei uns grillierte. Ja, warum eigentlich? Vermutlich waren es Jugendliche gewesen, die sich einen netten Abend gemacht hatten. Bis auf das Schneidebrett und das Messer haben sie alles wieder an seinen Platz zurückgelegt. Sogar ihren Abfall haben sie entsorgt.
Inzwischen beschäftigt mich meine Reaktion fast mehr als der Vorfall selbst. Ich habe mich immer für offen und tolerant gehalten, doch kaum tritt jemand in mein Gärtchen, kommt Ablehnung in mir auf. Vermutlich, weil ich mich dadurch ungeschützt und verletzbar fühle. Der Garten ist meine Oase, ihn zu teilen, setzt voraus, dass ich an das Gute im Menschen glaube. Das fällt mir schwer. Im Grunde müsste ich meinen ungebetenen Gästen dankbar sein. Sie haben mein Menschenbild ein klein wenig zum Besseren verändert.
Den Ohrring habe ich übrigens aufbewahrt. Falls er dir gehört, melde dich doch bitte bei mir. Ich würde dich gerne kennen lernen.
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