Papablog: Risikomanagement in der ErziehungKinder brauchen auch Gefahr
Von Kletterbäumen, Taschenmessern und Strassenüberquerungen: warum Eltern die Kunst des Risikomanagements beherrschen sollten.
Das hier wird ein schwieriger Text für mich. Erstens, weil ich mich mit der These weit aus dem Fenster lehne, dass zu einem Kinderleben auch unbedingt ein gewisses Mass an Gefahr gehört. Das ist nicht gerade eine populäre Meinung und ganz ehrlich: Die Welt ist wirklich auch ohne ein bekräftigendes «Ja, gehört dazu!» gefährlich genug. Zweitens entspricht diese These überhaupt nicht meinem Naturell. Ich bin ein Sorgenvater und ein Hasenherz. Im Gegensatz zu meiner Lebenskomplizin male ich mir häufig die schrecklichsten Dinge aus, die unseren Kindern zustossen könnten, und neige dazu, sie zurückzuhalten. Von meiner Lebenskomplizin werden sie grundsätzlich eher ermutigt. Wenn also eins meiner Kinder vor einem Baum steht und abenteuerlustig in den Wipfel schaut, bin ich eher von der «Willst du da wirklich rauf?»-Fraktion. Früher habe ich das auch genau so gesagt. Mittlerweile verbeisse ich mir das und stöhne nur noch leicht auf, wenn ich meine Lebenskomplizin Dinge wie «Los, rauf da, das schaffst du!» sagen höre. Nach wie vor gucke ich dabei dann gerne in eine andere Richtung. Aber mit einer achtzehnjährigen und einer siebenjährigen Tochter muss ich schlicht und ergreifend anerkennen: Ihre Mutter hat recht.
Im Auge des Risikos
Ja, sie könnten herunterfallen. Ja, sie können sich mit ihrem Taschenmesser schneiden, wenn sie mit erschütternd grobschlächtigen Bewegungen einen Stock schnitzen. Und ja, die Ecke vorne an der Sackgasse, in der wir leben, ist wirklich eine Herausforderung. Jeden Schulmorgen schwingen sich meine Kinder mit ein paar ihrer Freundinnen und Freunden aufs Fahrrad und radeln zum Unterricht. Ich weiss, dass die Autos da vorne manchmal zu schnell fahren und nicht in unsere Sackgasse schauen, ob da nicht, sagen wir mal, ein oder mehrere Kinder in halsbrecherischem Tempo herausgeschossen kommen. Aber es passiert nichts. Die Kinder lachen, schauen nach hinten und winken. Sie verabschieden sich, sie unterhalten sich, sie fahren mit einer Hand am Lenker. Was sie hinter der Kurve machen, weiss ich nicht. Beziehungsweise kann ich es mir vorstellen. Ich zum Beispiel hab mich in dem Alter dann gerne vom Sattel auf den Gepäckträger gesetzt oder bin ein Stück auf dem Hinterrad gefahren.
Das ist das Merkwürdige an meiner Elternschaft. Was mich angeht, bin ich grossflächig angstfrei. Teilweise angstfreier, als für einen mittelalten Mann gut ist. Wenn ich in den sozialen Netzwerken irgendjemanden etwas in grosser Höhe machen sehe, ist mein erster Gedanke nicht etwa «Oha, das sieht gefährlich aus!», sondern ganz klar «Wie geil ist das denn?!». Ich muss mich dann sehr bewusst daran erinnern, dass ich ein Mittvierziger mit vier Kindern bin, der zwar eine absurde Vorliebe für Höhen und Geschwindigkeit haben mag, aber vielleicht mal besser den Ball flach hält. Und auch, was unsere Kinder angeht, muss ich mich erinnern: Und zwar an meine Kindheit. Daran, dass ich unter jeden Stein geschaut habe und auf jeden Baum geklettert bin. Ich bin in Treppenhäusern auf der falschen Seite des Geländers hochgeklettert und von Bäumen in Seen gesprungen, von denen ich nicht wusste, wie tief sie sind. Was man als Kind eben so macht.
Daher auch mein Mantra: Es ist weder meine Aufgabe, meine Kinder in Watte einzupacken, noch sie absolut unnötigen, aber hochgefährlichen Gefahren auszusetzen. Ich muss ihnen eine einigermassen vernünftige Risikoabwägung beibringen. Und da, wo mir das nicht gelingt, mich auf meine Lebenskomplizin verlassen. Ohne sie hätte ich ängstliche, scheue Kinder, denen ich kaum einmal erlaubt hätte, an Gefahren zu wachsen. Und gerade weil die Welt so gefährlich ist, ist dieses Wachstum unverzichtbar. Auch wenn es schwerfällt.
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