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Mamablog: Echte Freiheiten
Haben unsere Kinder genügend Freiräume?

Mein Game, meine Freiheiten: Die digitale Welt eröffnet Kindern Welten, die wir Eltern so nicht kennen.

Als ich gestern Mittag kurz vor «Ui-die-Kinder-kommen-gleich» das Nudelwasser abschüttete, fiel mein Blick auf die riesige Baustelle hinter unserm Haus. Und obwohl gerade heisses Wasser auf meine Hand tropfte, konnte ich mich nicht von ihr losreissen. Denn was ich dort sah, war: Winnetou! Winnetou, der auf seinem Pferd Iltschi über alle Hügel galoppierte und…. Moment! Irgendetwas konnte an meiner Wahrnehmung nicht stimmen. Auf dieser Baustelle gibt es weder Hügel noch Winnetou. Na ja, vielleicht, eventuell oder auch nicht. Doch mein Blick erkannte Winnetou erneut. Und neben ihm – mich selbst, als etwa achtjähriges Mädchen.

Die Kinder von heute können kaum mehr Brachland zu ihrer Welt machen, weil es kaum mehr welches gibt.

Da erinnerte ich mich wieder. An die Baustelle, die damals neben meinem Elternhaus lag. Auf der zwar ein Schild mit «Betreten auf eigene Gefahr» stand, was aber weder Eltern zum Spielverbot veranlasste, geschweige denn uns Kinder von einem klitzekleinen Date mit Winnetou abhielt. Ach, von wegen klitzeklein: Gefühlte Jahre habe ich abends auf der menschenleeren Baustelle verbracht, obwohl es sich wohl nur um ein Einziges handelte. Aber dieses eine Jahr war so dicht an Freiheit, so vollgepackt mit Fantasie gewesen, dass die Erinnerung daran wohl eines meiner prägendsten war.

Spielen verboten

Spielen auf einer Baustelle ist im Jahr 2022 allerdings undenkbar. Was ja auch richtig ist, denn Baustellen sind sehr gefährlich. Und doch stimmte es mich wehmütig, dass heutige Kinder viele der Freiräume, die ich als Kind genoss, nicht mehr kennen. Es stimmte mich sentimental, weil diese wilde Freiheit für mich bis heute ein Grundpfeiler ist.

Wilde Ur-Sehnsucht: Kinder wollen Unbekanntes und damit ihre ganz eigenen Welten entdecken.

Die Kinder von heute können – zumindest in der Stadt – kaum mehr Brachland zu ihrer Welt machen, weil es kaum mehr welches gibt. Aber sollte doch mal ein Plätzchen oder eine kleine Parzelle frei sein, werden diese durch Erwachsene hübsch gestylt und durchkonstruiert, was der kindlichen Ur-Sehnsucht nach Unentdecktem wiederum deutlich widerspricht. Und obwohl heute in vielerlei Hinsicht mehr möglich ist, scheint mir auf einer anderen Ebene das Kinderleben enger und reglementierter geworden zu sein. 

Fantastische Erinnerung

Just in diesem Moment flog die Tür auf und mein Sohn rief: «Mama, heute war es so cool in der Schule: Wir durften gamen!» Er strahlte dabei, wie ich nach meinem gemeinsamen Ritt mit Winnetou auf der Baustelle. Da machte es Klick in meinem Kopf. Diese digitale Welt, bei der mein analoges Herz – allen pädagogischen Bemühungen zum Trotz – noch immer nicht richtig zu schlagen vermochte, ist eine Freiheit, die heutige Kinder – im Gegensatz zu mir – kennen. Sie bietet ein Feld, das nicht nur süchtig-machend-unterhaltsam ist, sondern sich auch von der Welt kritischer Erwachsener abgrenzt.

Ich will anerkennen, dass sich die Bedingungen zwar ändern, echte Freiheit aber immer im Kopf stattfinden wird.

Ich erkannte hinter der digitalen Konsumierwut heutiger Kinder plötzlich auch eine Sehnsucht nach Freiheit, die jener meiner Kindheit nicht unähnlich ist. Ich allerdings wollte noch nicht ganz klein beigeben und ihnen die gute alte Welt zeigen, also schauten wir am Abend gemeinsam Winnetou. Nun, was soll ich sagen: Nach 15 Minuten war der Film für uns zu Ende. Was für ein brutales Geballere, welch chauvinistische und rassistische Klischees in dieser kurzen Zeit über den Bildschirm flimmerten. Ich war enttäuscht. So hatte ich das nicht in Erinnerung. Doch dann wurde mir klar, dass die Grossartigkeit des Films eben nicht am TV stattgefunden hat, sondern in meinem Kopf abgelaufen ist. Dass nicht der Film hängen geblieben war, sondern das, was ich daraus machte.

Weder besser, noch schlechter – nur anders

Wahrscheinlich verhält es sich mit dem Gamen ganz ähnlich – vorausgesetzt, der Konsum hält sich in Grenzen und gilt nur als Ergänzung zur eigenen Erfahrung. Mein Sohn und sein Freund zum Beispiel marschieren oft stundenlang die Strasse auf und ab, mit Gesichtern wie zwei altgriechische Philosophen. Worüber sie reden? Über Games. Sie entwickeln die Spielfiguren im Kopf weiter, erfinden neue Regeln, sind im Bann ihrer eigenen Fantasie. Damit erleben sie übers Gamen das, was mir Winnetou einst auf der Baustelle schenkte.

Thema? Egal! Denn die kindliche Freiheit findet im Kopf statt und ist damit schier grenzenlos.

Und da ich oft genug die Augen über die digitale Welt verdrehe und mich nach realen Freiräumen für Kinder sehne, will ich für einmal anerkennen, dass Eigenes zu erschaffen, auch in 100 Jahren noch die wichtigste Triebfeder einer Kindheit sein wird. Dass sich die Bedingungen zwar ändern, echte Freiheit aber immer im Kopf stattfinden wird. Und genau darin sind Kinder genial. Darauf dürfen wir vertrauen. Wenn also sentimentalen Eltern sogar Winnetou erscheint, sollten diese daran denken, dass ihre Kinder in dieser Welt ihren eigenen Weg gehen. Es ist ihre Kindheit. Sie haben keine andere. Weder geht es um besser oder schlechter, nur um anders. Und das ist gut so. 

Was halten Sie von diesen sich wandelnden Freiräumen, liebe Leserinnen und Leser? Oder gibt es Ihrer Meinung nach tatsächlich zu wenig reale Freiräume? Diskutieren Sie mit.