Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Palästinensische und israelische Diaspora
«Die Stimmung ist auch in der Schweiz gefährlich aufgeheizt»

Impressionen der abgesagten Mahnwache für Palestina beim Central. 13.10.23

Niemand da. Ein Kleintransporter lädt Blumen aus, Passanten hasten durchs weiche Morgenlicht aufs Tram. Aber von Olivenöl keine Spur. Ariet Güttinger steht am Zürcher Paradeplatz und wartet. Auf den Chauffeur, der die Kisten mit dem palästinensischen Olivenöl bringen soll, das sie hier verkaufen will. Güttinger, eine pensionierte Historikerin aus Zürich, ist Vorstandsmitglied der «Kampagne Olivenöl», eines Hilfsprojekts zugunsten der palästinensischen Bevölkerung. 2018 war sie als Menschenrechts­beobachterin in Israel und den besetzten Gebieten, seither lässt der Nahostkonflikt sie nicht mehr los.

Ein- bis zweimal pro Monat steht Güttinger in diesem Herbst an einem Stand und verkauft palästinensisches Fair-Trade-Olivenöl sowie die orientalische Gewürzmischung Za’tar. Der Gewinn kommt unter anderem Kleinbauern und Kindergärten in Gaza, im Westjordanland und im Libanon zugute. Der Olivenbaum – ein Symbol des Friedens – hat in diesem Fall eine tiefere Bedeutung.

Beitrag zur Völker­verständigung

Die «Kampagne Olivenöl» wolle Brücken bauen, sagt Güttinger. Der Verein wurde vor 21 Jahren durch das jüdisch-schweizerische Ehepaar Jochi und Anjuska Weil gemeinsam mit Vertretern der palästinensischen Gemeinschaft gegründet. Güttinger sieht ihn als Beitrag zur Völkerverständigung und als Beweis dafür, dass sich Vertreter der beiden verfeindeten Lager zusammentun können.

Vielleicht war das gemeinsame Engagement nie nötiger als in diesen Tagen. Würde bloss dieses Olivenöl endlich angeliefert. Später werden Güttinger und ihre Vereinskollegin erfahren, dass der Fahrer mit Fieber im Bett liegt. Sie müssen unverrichteter Dinge nach Hause gehen. Es ist schon fast sinnbildlich für die Ohnmacht, die die Menschen mit Beziehungen zu Israel und den Palästinensergebieten in diesen Tagen spüren.

Die öffentliche Meinung ist klar

Der Konflikt im Nahen Osten zieht seit Jahrzehnten tiefe Gräben zwischen Palästinensern und Israelis. Mit dem Grossangriff der Hamas auf Israel hat er neue Dimensionen erreicht. Auf beiden Seiten sterben Hunderte Zivilisten, auch viele Kinder.

Das Narrativ in der Weltöffentlichkeit ist jedoch deutlich: Hier Israel, das von den Hamas-Terroristen mit unvorstellbarer Brutalität überfallen wurde und nun zum legitimen Gegenschlag ausholt. Da die Palästinenser, die die Hamas einst demokratisch gewählt haben und den bewaffneten Kampf mangels Friedensperspektive zunehmend unterstützen. Auch wenn die Hamas mit eiserner Hand regiert und seit 2006 keine Wahlen mehr zugelassen hat. Und über eine Million Zivilisten im Gazastreifen hungern, leiden und beschossen werden.

«Man spricht nur über den Angriff der Hamas, als könne man das als losgelöstes Ereignis betrachten.»

Eine Halbpalästinenserin aus Zürich

Die komplexe Situation schlägt sich in der Stimmung der beiden Diasporas in der Schweiz nieder. Diese Redaktion hat mit zahlreichen Menschen mit palästinensischen und israelischen Wurzeln gesprochen. Die wenigsten wollen öffentlich über ihre Gefühle reden.

Besonders zurückhaltend sind Menschen aus der palästinensischen Gemeinschaft. Zu aufgewühlt sind sie, oder sie fürchten, angefeindet zu werden. Und es ist Frustration und Resignation spürbar. «Warum interessiert ihr euch erst jetzt für uns?», fragen sie. «Braucht es israelische Opfer, damit der Nahostkonflikt den Westen etwas angeht?»

Solche Fragen hat die Schweizer Kulturwissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi in ihrer Forschung untersucht. Sie kommt zum Schluss: Die Geschichte des palästinensischen Volkes, seine Erfahrung der Vertreibung und Enteignung, werde in Westeuropa negiert und totgeschwiegen. Diese Nichtanerkennung als Opfer habe zu einem kollektiven Trauma geführt, sagt El Bulbeisi, die mit einem palästinensischen Vater aufgewachsen ist.

Palästinenserinnen und Palästinenser würden von westlichen Medien und Beobachtern stets mit Terroristen und Antisemiten in Verbindung gebracht. Dadurch würden sie «entmenschlicht» und unsichtbar als Volk, das seit Jahrzehnten systematisch Gewalt erfahre.

Eine Halbpalästinenserin aus Zürich sagt: «Wir befinden uns im Mainstream-Diskurs immer noch auf Stufe eins. Man spricht nur über den Angriff der Hamas, als könne man das als losgelöstes Ereignis betrachten.» Vielmehr sei er Teil einer Gewaltspirale und Ergebnis jahrzehntelanger Unterdrückung, sagt die junge Frau, die aus Rücksicht auf ihre Familie anonym bleiben will. Viele Verwandte leben im Westjordanland.

«Viele verlangen, dass sich die Palästinenser jetzt von der Hamas distanzieren. Aber es war doch kein Kollektiventscheid, israelische Zivilistinnen und Zivilisten anzugreifen!» Die Frau ist wütend und traurig. Die palästinensische Bevölkerung sei genauso überrascht worden. «Die Forderung impliziert, dass alle Palästinenserinnen und Palästinenser potenzielle Terroristen sind, wenn sie nicht aktiv widersprechen.»

Viele berichten von einem Dilemma. Sie fühlen sich ohnmächtig, sorgen sich um ihre Familien. Gleichzeitig befürchten sie, den brutalen Angriff der Hamas zu legitimieren, wenn sie sich äussern. «Dabei wollen wir nur eines: endlich Frieden», sagt die Frau.

«Free Palestine» wird zum Reizbegriff

Die Schwierigkeiten zeigen sich besonders am Umgang mit propalästinensischen Kundgebungen. Während sich noch am Dienstag über 1000 Menschen in Zürich mit Israel solidarisierten, wurden am Donnerstag und Freitag mehrere propalästinensische Kundgebungen in der Deutschschweiz wegen Sicherheitsbedenken verboten. Auch eine Pro-Israel-Mahnwache wurde abgesagt.

So kommt es, dass am Freitagmittag eine kleine Gruppe etwas verloren am Central in der Zürcher Innenstadt steht. Wie jeden zweiten Freitag im Monat wollten sie auch heute eine stille Mahnwache «für den gerechten Frieden» zwischen Israel und Palästina abhalten. Seit bald 20 Jahren werden diese Mahnwachen zeitgleich in Bern und Zürich veranstaltet – doch heute entzog die Stadtpolizei die Bewilligung kurzfristig wieder.

Impressionen der abgesagten Mahnwache für Palestina beim Central. 13.10.23

Mitorganisator Jochi Weil sagt: «Auch wenn es schade ist, kann ich es verstehen. Die Stimmung zwischen Juden und Palästinensern ist auch in der Schweiz gefährlich aufgeheizt.» Der 81-jährige Zürcher ist gläubiger Jude, er betreute während 30 Jahren medizinische Hilfsprojekte in Israel und Gaza.

Er sieht sich als «Brücklibauer» (das sei nur im Kleinen möglich): Neben dem eingangs erwähnten Olivenölverkauf organisiert er die Mahnwachen mit, tritt mit vielen Menschen mit Wurzeln auf beiden Seiten in Kontakt. Die Gewalteskalation belastet ihn stark. «Jetzt wird es noch schwieriger, den Dialog zu fördern.»

Portrait von Jochi Weil an der abgesagten Mahnwache für Palestina beim Central. 13.10.23

Ein paar Meter entfernt hat jemand mit Kreide «Free Palestine» auf den Asphalt gekritzelt. Es ist eine Parole, die viele Jüdinnen und Juden ärgert und frustriert. Sie empfinden sie als antisemitisch, «da es in diesem Zusammenhang das Massaker der Hamas gegenüber den Juden rechtfertigt», findet eine 22-jährige Jüdin aus Zürich. Die Studentin sagt: «Das Massaker hat meiner Meinung nach nichts mit dem eigentlichen Konflikt Israel - Palästina zu tun.»

Impressionen der abgesagten Mahnwache für Palestina beim Central. 13.10.23

Ausserdem könne man die Gegenreaktion Israels – eines demokratischen Staates – nicht mit den Taten einer Terrororganisation vergleichen. «Auch die Palästinenser werden von der Hamas unterdrückt, welche jegliche Warnungen Israels ignoriert.»

Ein Dialog? Schwierig

Die Nachrichten aus dem Konfliktgebiet machen wenig Mut. Können wenigstens die israelische und die palästinensische Diaspora in Dialog treten? Schwierig. Kulturwissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi sagt: «Es gibt kein sinnvolles Sprechen miteinander, keinen Dialog, solange den Palästinensern nicht die gleiche Menschlichkeit zugesprochen wird wie den Israelis.»

Jochi Weil findet, es brauche eine differenzierte Grundhaltung: «Man darf den Terror der Hamas nicht relativieren. Gleichzeitig aber nicht vergessen, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser während Jahrzehnten von Israel unterdrückt wurden.» Er glaubt an einen Dialog. «Etwa durch die Mahnwachen, Gespräche oder unseren Verkauf von Olivenöl.» Auch wenn viele Brücken nun eingerissen wurden – er will es weiter versuchen. «Wenn man schon so lange dran ist, gibt man nicht einfach auf», sagt Weil und lächelt.

Aufgeben wollen auch Ariet Güttinger und ihre Mitstreiter vom Verein «Kampagne Olivenöl» nicht. Am Samstag stehen sie am Stand und bieten ihre Ware zum Verkauf an. Um der Ohnmacht wenigstens im Kleinen entgegenzutreten.