Palästinenser in IsraelSie wollen zurück nach Gaza, auch wenn dort der Tod droht
Tausende Palästinenser befanden sich in Israel, als der Krieg begann. Sie sind dort in Sicherheit. Doch was bedeutet das schon, wenn ihre Familien zu Hause leiden?
Das Smartphone ist die einzige Verbindung. Ohne sie ist alles leer. Abu Ahmed trägt das Handy in der Brusttasche, dort blinkt es auf, wenn eine Nachricht kommt. Abu Mohammed hält es meist in der Hand, zusammen mit der Gebetskette, deren Perlen er nervös durch die Finger gleiten lässt. Mit dem Smartphone halten die beiden Männer Kontakt zur Heimat, zu den Familien drüben im Gazastreifen: Abu Ahmed von einem Spitalzimmer in Jerusalem aus, Abu Mohammed auf seinem Matratzenlager in einer Sporthalle in Ramallah.
Zwei Gestrandete aus Gaza sind sie. Zwei von mehreren Tausend Palästinensern aus dem Küstenstreifen, die bei Kriegsbeginn am 7. Oktober nicht zu Hause waren, sondern in Israel – und die jetzt nicht mehr nach Hause zurückkönnen. Sie sind in Sicherheit, aber was bedeutet das schon, wenn daheim ihre Kinder, ihre Frauen und alle anderen aus der Familie leiden, wenn die Liebsten in ständiger Lebensgefahr sind. (News-Ticker zum Krieg in Gaza)
Ihren Namen möchten beide nur in verfremdeter Form preisgeben, als «Vater von Ahmed» und «Vater von Mohammed». Über Politik möchten sie nicht reden, schon gar nicht über die Hamas, die diesen Krieg gegen Israel entfesselt hat, während Abu Ahmed zur medizinischen Behandlung in Israel war und Abu Mohammed zum Arbeiten. Aber Politik ist in diesen Tagen wohl sowieso etwas für andere und nichts für die, deren Leben allein noch von der Angst bestimmt wird. Gaza mag die Hölle sein in diesen Wochen. Doch nicht in Gaza zu sein, ist für diese beiden Männer die Hölle hoch zwei. (Lesen Sie zum Thema: Hamas-Zentrale unter Spital? Gebiet um Shifa-Klinik wird zum Schlachtfeld)
Rückkehr ausgeschlossen
Abu Ahmed, ein 59 Jahre alter Universitätsdozent, kam am 3. Oktober ins Ostjerusalemer Auguste-Viktoria-Spital mit einer Darmkrebsdiagnose. Palästinensische Patienten können dort mit einer Sondergenehmigung der israelischen Behörden medizinische Behandlungen bekommen, die es im Gazastreifen nicht gibt. Eine Geste der Menschlichkeit, die für viele die letzte Hoffnung ist.
Nun aber sitzen allein im Spital auf dem Ölberg mehr als hundert Palästinenser fest, Patienten und deren Begleitpersonen. «Eine Woche sollte ich bleiben», sagt Abu Ahmed – jetzt sind es schon mehr als fünf, und an eine Rückkehr ist nicht zu denken, weil gekämpft wird und die Grenzübergänge geschlossen sind.
Zurückgelassen hat er zu Hause seine Frau, sieben Kinder und die Enkel. Wenn er den Fernseher anschaltet, weiss er, was sie durchmachen. «Ich klebe den ganzen Tag am Bildschirm fest», sagt er. Er sieht dort die Bilder der Verwüstung, die Bomben, die auch auf Rimal fallen, sein Wohnviertel in Gaza-Stadt. «Das ist wie im Zweiten Weltkrieg, wie in Hiroshima», meint er.
Die Familie, so erzählt er, sei nach den ersten israelischen Evakuierungsaufforderungen in Richtung Süden geflohen. Dort aber war alles überfüllt, fast eine Million Menschen haben sich ja schon auf den Weg gemacht. Also ist die Familie zurückgekehrt ins eigene Haus. «Wo können sie bleiben? Nirgends sind sie sicher», sagt Abu Ahmed. «Was soll ich sagen, wenn mich meine Kinder fragen, wohin sie gehen sollen?»
Er hat keine Antwort auf solche Fragen, er ist ja weit weg, und er hat zu alledem auch noch seinen eigenen Kampf zu kämpfen, den gegen den Krebs. Zur Angst um die Familie kommen auch noch die Schuldgefühle: weil er nicht bei ihnen ist in der Not. Weil sie allein sind in der Gefahr. Weil er Essen bekommt und genug zu trinken, während sie Hunger haben und stundenlang für Wasser anstehen müssen.
«Wenn ich nichts höre, dann weiss ich nicht, ob sie noch leben», sagt Abu Ahmed.
Am schlimmsten ist es, wenn er sie am Telefon nicht erreichen kann. Zweimal schon waren als Folge der israelischen Angriffe zwischenzeitlich alle Kommunikationsverbindungen in den Gazastreifen gekappt. Ausserdem gibt es dort oft keinen Strom, um das Handy aufzuladen. «Wenn ich nichts höre, dann weiss ich nicht, ob sie noch leben», sagt Abu Ahmed.
Nicht anders geht es Abu Mohammed, wenn er von Ramallah im Westjordanland aus in Chan Yunis im südlichen Gazastreifen anruft – und aus der Leitung kommt nur die Ansage, der Teilnehmer sei nicht erreichbar. «Manchmal komme ich zwei oder drei Tage lang nicht durch», klagt er. Und wenn sie dann sprechen, hört er Sätze, die er nicht hören will: «Wir wissen nicht, ob wir morgen wieder reden können. Wir wissen nicht, ob wir morgen noch leben.»
Abu Mohammed ist einer von ungefähr 18’000 Männern aus dem Gazastreifen, die – natürlich nach eingehender Überprüfung durch die israelischen Sicherheitsbehörden – eine Arbeitserlaubnis bekommen hatten für Israel. Eigentlich ist das ein grosses Glück. Im Gazastreifen lag die Arbeitslosigkeit vor dem Krieg bei 50 Prozent. In Israel lässt sich genug verdienen, um die Familie zu ernähren und die Kinder auf gute Schulen zu schicken. Geld für ein Stückchen Sicherheit, ein bisschen Normalität.
Elf Monate lang hat Abu Mohammed in einer Gärtnerei in Hadera gearbeitet, auf halber Strecke zwischen Tel Aviv und Haifa, rund 100 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Übernachtet hat er mit anderen Arbeitern aus Gaza in einem von israelischen Arabern bewohnten Dorf in der Nähe, nur an Wochenenden sind sie nach Hause gefahren. Er war gern in der Gärtnerei, er war glücklich mit der Arbeit. «Ich habe mich um die Blumen gekümmert», sagt er. «Jetzt habe ich nur noch Dornen.»
Tagelang versteckte er sich
Am 7. Oktober, einem Samstag, war er über das Wochenende in Israel geblieben. Bis nach Hadera sind keine Raketen geflogen aus Gaza, es gab keinen Luftalarm. Aber natürlich hat Abu Mohammed schnell erfahren, was passiert war – und gewusst, dass es nun auch für ihn bedrohlich werden könnte. Er habe Angst gehabt, für einen Terroristen gehalten und erschossen zu werden, erzählt er. Angst auch vor möglichen Racheakten nach dem Massaker der Hamas und davor, von den israelischen Sicherheitskräften gefangen genommen und eingesperrt zu werden.
Die Arbeitserlaubnis für alle Männer aus Gaza wurde von den israelischen Behörden schnell nach dem Terrorüberfall annulliert. Abu Mohammed hat sich tagelang in seiner Unterkunft nahe Hadera versteckt gehalten. Dann hat er zusammen mit drei anderen einen Fahrer gefunden, der sie wegbrachte aus Israel, rüber ins palästinensische Westjordanland. Umgerechnet rund 190 Franken hat jeder von ihnen dafür bezahlt, ungefähr einen Wochenlohn.
Bis zu 10’000 Arbeiter aus Gaza sollen nun im Westjordanland festsitzen, so wie Abu Mohammed. Er lebt nun in einer Sporthalle in Ramallah. 500 Matratzen, mindestens, liegen hier dicht an dicht auf dem Hallenboden und der Tribüne, darauf zerknüllte Wolldecken und kleine Rucksäcke oder Plastiktüten mit ein paar Habseligkeiten. Socken, Unterhosen, T-Shirts hängen über den Handballtoren und den Geländern. Die Luft ist stickig, viele rauchen, weil es sowieso nichts anderes zu tun gibt.
Abu Mohammed hat hier einen Schlafplatz gefunden, Essen, freies Internet. Er ist versorgt mit dem Nötigsten – und wird geflutet von düsteren Gedanken. Mit Tränen in den Augen zählt er auf, wer schon alles getötet worden ist aus dem weiteren Kreis der Familie und wessen Haus zerstört wurde. «Jeder hier hat solche Geschichten zu erzählen», sagt er. «Wir sind alle voller Trauer und Angst.»
Zu den Geschichten, die sie sich hier gegenseitig erzählen, gehören auch die von den anderen Arbeitern aus Gaza, die nach dem 7. Oktober in Israel eingesperrt worden sind. In der israelischen Zeitung «Haaretz» wird unter Berufung auf Betroffene berichtet, sie seien teils in «käfigartigen Einrichtungen» festgehalten worden, manche seien auch bis zu zwei Tage der Sonne ausgesetzt gewesen, ohne Wasser, ohne Essen.
«Aber meine Freunde sagen mir, du wirst zu Hause nichts mehr wiedererkennen.»
Ein Armeesprecher verweist auf Anfrage darauf, dass man nicht auf eine so grosse Zahl von Festgehaltenen vorbereitet gewesen sei. Manche hätten «eine Zeitlang» in der Sonne ausharren müssen, aber nicht zwei Tage. Wasser und Essen sei immer bereitgestellt worden. Vor einer Woche haben Israels Sicherheitskräfte dann Tausende dieser Männer zurück nach Gaza geschickt. Mit dem Bus waren sie zur Grenze bei Kerem Schalom gebracht worden, zu Fuss überquerten sie den Übergang.
Für die Gestrandeten aus Gaza im Westjordanland oder in Jerusalem bleibt die Grenze bis auf weiteres zu. Aus der Ferne müssen sie immer wieder versuchen ihren Familien beizustehen, ihnen nahe zu sein. «Ich will sie sehen und sie in den Arm nehmen», sagt Abu Mohammed auf seiner Matratze in der Sporthalle von Ramallah. «Ich will jetzt gehen, auch wenn ich dort sterbe.»
Ganz ähnlich empfindet es auch Abu Ahmed, der Krebspatient aus dem Auguste-Viktoria-Spital. «Sobald es eine Gelegenheit gibt, will ich zurück», sagt er. «Aber meine Freunde sagen mir, du wirst zu Hause nichts mehr wiedererkennen.»
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